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»Die neunte Nacht«, sagte Siegfried leise, fast tonlos, so daß seine Stimme nichts über seine Gemütslage verriet.

Grimbert hörte trotzdem die Klage und die schwindende Hoffnung, die in den wenigen Worten mitschwang. Er fühlte sich kaum anders.

Sie hockten in ihrer engen, fensterlosen Kerkerzelle. Durch das kleine Loch in der schweren Eichenholztür fiel etwas Fackelschein vom Gang ein und sorgte für einen trügerischen Hauch von Wärme. Auch Grimberts Hoffnung schwand, was er gegenüber Siegfried allerdings zu verbergen suchte. Der alte Recke hatte zu oft erlebt, wie Mutlosigkeit und Hoffnung zur Panik gerieten.

Aus der Finsternis klang wieder Siegfried Stimme: »Warum glaubt Ihr, daß Loki Böses will, Oheim? Kann es nicht sein, daß Wodan und die anderen Götter hinter ihm stehen?«

»Das war einmal. Aber mit Balders Tod kam die Finsternis über die Götter. Und das Band zwischen Wodan und Loki zerbrach.«

»Balder ist der Gott des Lichts«, erinnerte sich Siegfried. Er mußte das Gerede über die alten Götter irgendwo beim Gesinde aufgeschnappt haben.

»Balder war es, doch jetzt ist er tot.«

»Hat Loki ihn getötet?«

»Nicht mit eigener Hand, und doch trägt Loki alle Schuld.«

Siegfried atmete tief durch. »Ich habe mal gehört, Balder sei unverwundbar. Wie kann man ihn da töten?«

»Niemand ist unverwundbar, und niemand ist unsterblich. Die alten Sagen berichten von Recken, die in Drachenblut badeten und so ihre Unverwundbarkeit erlangten. Aber auch sie fanden irgendwann den Tod - so wie Balder. Der Lichtgott ahnte sein düsteres Schicksal in bösen Träumen voraus. Seine Eltern, Wodan und Frija, nahmen allen Lebewesen und sogar den Steinen das Versprechen ab, Balder nicht zu verletzen. Fortan galt er als unverwundbar, und die anderen Götter machten sich einen Spaß daraus, ihn mit Steinen und Speeren zu bewerfen. Nur Höder, Balders Bruder, nahm an diesem Spiel nicht teil, weil er blind war. Eines Tages trat Loki der Mißgünstige, neidisch auf Balders Unverwundbarkeit, an Höder heran, drückte ihm einen Speer in die Hand und versprach, ihm die Wurfrichtung zu zeigen. Was Höder nicht wußte, Loki der Hinterlistige aber wohclass="underline" Der Speer war aus dem Holz der Mistel geschnitten, die Wodan und Frija nicht um einen schützenden Eid für Balder gebeten hatten, weil die Mistel damals noch jung war und zu unbedeutend erschien.«

»Und der Speer tötete Balder?« fragte Siegfried, der Grimberts Erzählung mit wachsender Spannung gelauscht hatte.

»Ja, Balder war auf der Stelle tot und ging ein ins Reich der Totengöttin Hel. Balders Bruder Hermod wagte den Ritt in ihr finsteres Land und bat um Balders Rückkehr zu den Lebenden. Hel sagte zu, unter der Bedingung, daß alle Lebewesen den Lichtgott beweinten. So sollte es geschehen, doch eine mißgünstige Riesin versagte sich die Tränen. Balder blieb im Reich der Toten. Die hartherzige Riesin aber war niemand anderes als der verkleidete Feuergott - Loki!«

»Jetzt verstehe ich, weshalb die Götter nicht mehr zu Loki stehen«, sagte Siegfried und blickte seinen Oheim an, dessen Gesicht im Fackelschein etwas Übernatürliches, fast schon Dämonisches hatte. »Ihr kennt Euch gut mit den alten Göttern aus, Grimbert.«

»Das muß ich, will ich gegen Reinhold bestehen.«

»Nur deshalb?«

Grimbert schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Wir leben im Zeitalter des Christengottes, unter seinem Kreuz. Wem ich Treue schwöre, dem diene ich treu. Aber ich muß ihn nicht lieben, mag er sich auch Gott der Liebe nennen.«

In seine letzten Worte fiel ein laut gellender Schrei, ganz in der Nähe ausgestoßen. Ein Schrei, der durch Mark und Bein ging. Er brach so plötzlich ab, wie er erklungen war.

Ein dumpfes Geräusch folgte, dann ein leises Klirren. Und Schritte, die sich näherten.

Grimbert schnellte hoch und drückte das Gesicht gegen die Tür, spähte durch das kleine Loch, das Luft und Licht einließ.

»Bei Wodan!« keuchte er.

»Was ist?« fragte Siegfried, der ebenfalls aufgesprungen war.

Ein lautes Kratzen ertönte. Er kannte das Geräusch. Die Kerkertür wurde geöffnet.

»Wir werden befreit!« Grimbert trat von der Tür zurück und fügte nach einem kurzen Zögern hinzu: »Von einem seltsamen Retter!«

Auch Siegfried traute seinen Augen nicht. Seltsam war dieser Retter in der Tat - und doch kannte er kaum einen Menschen besser als ihn: Otter trug nur einen ledernen Schurz um die Hüften. Seine glatte Haut glitzerte seltsam. Siegfried brauchte einen Moment, um zu erkennen, daß es zahllose winzige Wassertropfen waren. An Otters Händen klebte Blut. Er machte ein ernstes, finster entschlossenes Gesicht.

»Kommt schnell!« zischte der Schmiedebursche. »Leider konnte der Wächter um Hilfe rufen, als ich ihm die Schlüssel abnahm. Falls andere Wachen den Schrei gehört haben, ist größte Eile geboten!«

»Wie kommst du hierher, Otter?« fragte Siegfried.

»Erst mit einem Boot, und dann bin ich geschwommen.«

»Das also ist Otter, von dem du erzählt hast«, stellte Grimbert fest und betrachtete den geschmeidigen Jungen prüfend. Dann sah er zu dem kräftigen Wächter, der auf dem Gang in seinem Blut lag. »Kaum glaublich, daß so ein schmaler Bursche den Söldner getötet hat!«

»Glaubt es oder glaubt es nicht«, flüsterte Otter. »Doch kommt endlich!«

Sie liefen aus der engen Zelle. Grimbert beugte sich über den Toten, um ihm die Waffen abzunehmen. Die aufgerissene Kehle war kein schöner Anblick. Siegfried warf Otter einen verstörten Blick zu. Der geheimnisvolle Findeljunge jedoch achtete nicht darauf.

»Ich nehme das Schwert«, sagte Grimbert und reichte Siegfried den Speer des Toten. »Für dich ist der Dolch, Otter.«

»Ich brauche keine Waffe«, erwiderte Otter.

Grimbert zuckte mit den Schultern und gab den Dolch Siegfried, der ihn in den Gürtel schob. Sie schlichen durch den von wenigen Fackeln kaum erhellten Gang.

»Das ist nicht der Weg hinauf zur Festung!« sagte Grimbert, als Otter sich in einen engen Nebengang drückte.

»Nein, das ist nicht unser Weg«, erwiderte der fast nackte Junge. »Zu viele Wachen«, fügte er wie zur Erklärung hinzu.

»Sie kommen schon!« warnte Siegfried, der Stimmen und Schritte vernommen hatte. »Wahrscheinlich haben sie den Schrei doch gehört.«

»Kommt weiter!« verlangte Otter und huschte voran.

Der steinerne Boden fiel stetig ab. Hier gab es keine Fackeln, nur Finsternis. Und Wasser. Erst plätscherte es nur um die Füße der drei Flüchtenden, dann umspielte es die Knöchel, die Beine.

»Bald müssen wir schwimmen«, knurrte Grimbert.

»Ihr habt es erfaßt, Graf«, erwiderte Otters helle Stimme aus dem Dunkeln. »Es ist ein Kanal, der ins Freie führt.«

»Woher wußtest du davon?« fragte Grimbert mißtrauisch.

»Ich habe ihn früher einmal entdeckt. Ich schwimme manchmal nachts ihm Rhein.«

»Niemand schwimmt nachts im Rhein!« erwiderte Grimbert. »Schon gar nicht zu dieser Insel, die von reißender Strömung umpeitscht wird!«

»Ich schon«, entgegnete Otter. Es klang weder eitel noch triumphierend, sondern wie eine Selbstverständlichkeit.

Er warf sich ins Wasser. Sie vernahmen nur ein dumpfes Geräusch. Siegfried folgte ihm, dann Grimbert. Der Kanal war eng. So eng, daß Siegfried den Speer und Grimbert das Schwert fallenlassen mußte. Manchmal spülten die Wasser des Rheins bis an die Felsdecke, und sie mußten tauchen. Nach einer Weile waren sie im Freien angelangt.

»Bis zum Fluß sind es nur wenige Schritte«, erklärte Otter, während er aus dem Wasser stieg und voranging.