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Die Wasseroberfläche brach auf, und etwas tauchte daraus hervor. In den milchigen Strahlen des Mondes war es nicht genau zu erkennen. Aber es sah aus wie ein Wesen, das halb Mensch und halb Tier war!

Geräuschlos, wie Reinhold es ihm beigebracht hatte, glitt Siegfried hinter den gerundeten Steinblock, auf dem er gesessen hatte. Er wagte nicht, den Kopf zu erheben, um nach dem seltsamen Wesen zu sehen.

Was war es?

Ein Wassermann?

Ein Seeungeheuer?

Ein ruchloser Sendbote des Siebenschläfers?

All dies schoß Siegfried durch den Kopf, und es erschien ihm keineswegs unglaublich. In einer solchen Nacht, an einem solchen Ort erwachten alte Mären zum Leben, kehrten die Geister zurück, die ein Christenpriester leichtfertig zum Aberglauben erklärte.

Konnte ein Aberglaube, ein Hirngespinst, eine Mär Geräusche verursachen?

Siegfried glaubte nicht, daß die Schritte seiner Einbildung entsprangen. So ging jemand, der dem Wasser entstieg, bei jedem Schritt mit einem leisen Platschen der nassen Füße.

Aber was immer es war, es kam zielstrebig näher. Genau auf die Gruppe niedriger Felsen zu, hinter denen Siegfried verborgen lag.

Er packte den Dolchgriff an seiner Hüfte, zog die Klinge aus der Lederscheide und spannte sämtliche Muskeln. Gleichzeitig hielt er den Atem an.

Er zweifelte nicht daran, daß ein Flußgeist gekommen war, um seine Seele, vielleicht auch seinen Körper zu rauben. Oder sein Blut. Oft genug hatte seine Amme von Menschen erzählt, Flößern oder Waschweibern, die plötzlich verschwanden. Der Rhein spuckte ihre Leiber zwar wieder aus, aber ihnen fehlte all ihr Blut, bis auf den letzten Tropfen.

Etwas verdunkelte das Mondlicht, doch es waren nicht die Wolken. Ein Schatten fiel auf den Felsen und den dahinter kauernden Jüngling.

Jetzt! durchfuhr es Siegfried wie ein Befehl, den er sich selbst erteilte. Er sprang hinter dem Felsen hervor, umschlang das fremde Wesen mit der Linken und riß es zu Boden. Er spürte glatte Haut, die an einen Aal erinnerte.

Siegfrieds Rechte mit dem Dolch fuhr nieder, aber der Stahl traf nicht sein Ziel, sondern fuhr bis zum Heft ins Erdreich. Mit unglaublicher Gewandtheit hatte sich das Wesen Siegfrieds Griff entzogen.

Das Herz klopfte, der Atem rasselte. Die Handflächen waren feucht. Wasser oder Schweiß? Jeden Augenblick rechnete Siegfried damit, daß sich scharfe Fänge in seinen Nacken bohrte, daß der Haken oder das Netz des Flußgeistes ihn mit unwiderstehlicher Gewalt in den Rhein zog.

Er sprang zur Seite, um dem Feind kein sicheres Ziel zu bieten, und umklammerte den Dolchgriff so fest, daß es fast schmerzte.

»Du mußt wirklich feindselige Gedanken gegen mich hegen, Siegfried«, sagte voller Verwunderung eine hohe Stimme. »Anders kann ich mir nicht erklären, daß du heute schon zum zweitenmal versucht hast, mich mit deinem Stahl zu durchbohren!«

Keine drei Schritte vor Siegfried stand Otter, vollkommen nackt, die dunkelbraunen Augen weit aufgerissen und fragend auf den Freund gerichtet. Wassertropfen glitzerten auf seiner glatten, fast haarlosen Haut.

Verwirrt stammelte Siegfried den Namen des anderen.

»Du erkennst mich also, wie beruhigend«, meinte Otter mit einem langen Seufzer. »Oder willst du mich jetzt immer noch meucheln?«

Siegfried schüttelte den Kopf. »Ich... ich hielt dich für einen...«

»Für einen Flußgeist?«

»Ja.« Siegfried nickte heftig.

Otters Lachen ähnelte dem Zwitschern eines Vogels. »Es ist gefährlich, wenn man nachts am Fluß sitzt, mein Freund. Man hört Stimmen, die nicht da sind. Und sieht Wesen, die es nicht gibt.«

»Und nachts im Fluß zu baden ist nicht gefährlich?«

»Für mich nicht. Ich bin ein guter Schwimmer. Hätte ich gewußt, daß du auch zum Fluß kommst, hätte ich auf dich gewartet.«

Nicht viele wagten es, im dunklen, rätselhaften Rhein zu baden. Schon gar nicht nachts!

Während Siegfried noch den Mut des Freundes bewunderte, ging Otter zu einem der nahen Felsen und hob seine Kleider auf. Er rieb sich mit dem Hemd trocken, zog sich an und sagte nach einem heftigen Gähnen: »Ich bin müde wie ein Ackergaul nach dem Pflügen. Wird Zeit, daß ich mich aufs Ohr haue. Kommst du mit?«

»Nein, ich bleibe noch ein wenig.«

»Aber nicht zu lange!« ermahnte ihn Otter. »Sonst siehst du wieder Gespenster. Einen dritten Mordanschlag überlebe ich vielleicht nicht.« Siegfried schaute ihm nach, bis er mit der Nacht verschmolz.

Otter war ein seltsamer Mensch. Einer von Reinholds Knechten hatte ihn als kleines Kind am Rhein gefunden. Niemand vermochte zu sagen, woher er kam. Auch Otter selbst nicht. Anfangs hatte er nur sinnloses Zeug gestammelt und nur sehr langsam sprechen gelernt. Weil man ihn am Fluß gefunden hatte und weil das Schwimmen seine Lieblingsbeschäftigung war, hatte man ihn Otter gerufen.

Hinter vorgehaltener Hand munkelte man über das Findelkind mit der eigenartig dunklen Haut. Viele mieden ihn aus Furcht, wie sie alles Fremde fürchteten, für Teufelswerk hielten oder für Geisterspuk. Otter schien sich nichts daraus zu machen. Jedenfalls zeigte er es nicht. Im Gegenteil, er gab sich stets gut gelaunt und war allen, die es wollten, ein guter Freund.

Ohne ihn wäre es für Siegfried oft sehr einsam auf der Schwertburg gewesen. Trotz des väterlichen Zuchtmeisters Reinhold und trotz Wieland, mit dem der junge Xantener ebenfalls Freundschaft geschlossen hatte. Der kräftige Sohn eines dänischen Fürsten war ein treuer Kamerad, aber mit Otter war es etwas anderes. Der dunkelhäutige Findling war fast wie ein Bruder für Siegfried. Vielleicht lag es daran, daß keiner von ihnen einen Vater hatte.

Plötzlich vernahm Siegfried Schritte hinter sich. War Otter zurückgekehrt?

Er drehte den Kopf.

Das war nicht Otter. Viel zu groß und kräftig wirkte der Schemen, der von der Burg zu kommen schien.

Ein Freund also? Oder die geschickte Täuschung eines Mahrs, eines Nachtdämons?

Wieder fuhr Siegfrieds Hand zum Dolch...

»Ich hörte schon von Otter, daß deine Klinge heute locker sitzt, Siegfried«, sagte Reinhold mit vertrauter, volltönender Stimme. »Der arme Junge glaubt, du trachtest ihm nach dem Leben.« Reinhold trat neben den Fels und blickte Siegfried in die Augen. »Was ist los mit dir? Warum siehst du Gespenster? Es war ein anstrengender Tag. Weshalb schläfst du nicht längst?«

»Es war vor allem ein enttäuschender Tag«, seufzte Siegfried.

»Du hast Graufell bekommen. Gefällt er dir nicht?«

»Doch«, erwiderte Siegfried schnell. »Ich glaube, ein besseres Pferd könnte ich mir nicht wünschen. Leider habe ich kein Schwert, das auch nur halb so gut ist.«

»Ja, ich verstehe«, brummte der Schmied und hockte sich neben ihn. »Du brütest immer noch über Siegmunds Runenschwert.«

»Ist das nicht verständlich? Es ist das Erbe meines Vaters, den ich verloren habe!«

»Ich verstehe deinen Schmerz und deine Trauer. Aber vergiß nicht, wir alle trauern um König Siegmund.«

Mit Reinholds faltigem, rußgebräuntem Gesicht ging eine Veränderung vor. Es wurde hart, starr. Mit verlorenem Blick sah der Waffenschmied hinaus auf den Rhein, als suche er dort etwas. Vielleicht seine Frau und den Sohn, dessen Heranwachsen er niemals erleben durfte.

Siegfried kannte die Geschichte, die sich zur Zeit seiner Geburt ereignet hatte. Damals kam auch Reinholds Gemahlin nieder und schenkte ihm den lang ersehnten Sohn. Doch kurz nach der Taufe durch Bischof Severin erkrankte das Neugeborene und starb. Die Mutter verfiel in tiefe Traurigkeit und folgte dem Kind nach wenigen Wochen. Fortan war Reinhold ohne Gefährtin. Seine einziger Umgang waren die Schmiedeburschen und die Pferde, die er züchtete.

»In wenigen Tagen wirst du ein Mann sein, also will ich dich auch wie einen behandeln«, sagte der Schmied endlich. »Du selbst sollst über dein Schicksal entscheiden.« Er zog einen Lederbeutel unter dem Wams hervor und öffnete ihn. »Hierin liegt dein Schicksal, Siegfried. Wähle es selbst!«