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»Mein Schicksal?« Verwirrt starrte Siegfried in den Beutel und erkannte rotbemalte Holzstückchen verschiedenster Form. Dann begriff er: »Runen!«

»Ja, es sind Schicksalsrunen, getränkt mit dem Blut Wodan geweihter Rösser. In alten Zeiten befragte man so die Götter.«

»Aber das ist heidnischer Zauber!«

»Das kann man auch vom Runenschwert behaupten«, erwiderte Reinhold mit leisem Lachen. »Aber ist es nicht gleich, ob die Kraft von den Runen kommt oder vom bloßen Glauben an sie?«

»Ich weiß nicht«, gestand Siegfried, der sich darüber noch nie Gedanken gemacht hatte. »Wie kommt es, daß Ihr Euch so gut mit den Runen auskennt?«

»Weil in alten Zeiten ein Schmied zugleich ein Runenkundiger war. Die Runenzier der Waffen wurde von jedem hervorragenden Recken verlangt. Allerdings habe ich diesen Beutel seit vielen Jahren nicht mehr zur Hand genommen.«

»Warum jetzt?«

»Als ich zu dir kam, ahnte ich, weshalb du hier auf dem Stein hockst. Wenn du wissen willst, ob Wodans Schwert dir gebührt, befrage Wodans Runen.« Reinhold hielt das Ledersäckchen vor Siegfrieds Gesicht. »Greif hinein und wählte eine Rune aus. Sie wird dir sagen, was das Richtige ist!«

Zögernd streckte Siegfried die Rechte in den Beutel. Eine starke Anspannung bemächtigte sich seiner. Er fühlte sich hin und her gerissen, als hätten zwei unsichtbare Mahre ihn gepackt. Der eine Mahr wollte ihn dazu bringen, möglichst rasch eine Rune zu wählen, um sein Schicksal zu erfahren. Der andere Mahr hielt ihn zurück, flüsterte ihm zu, sein Handeln reiflich zu überdenken. Zu überlegen, ob es gut sei, ins eigene Schicksal zu schauen.

»Nun?« fragte Reinhold. »Was zögerst du? Wenn du es nicht willst, dann sag’s nur.«

»Doch, ich will!«

Mit schnellem Griff zog Siegfried eines der daumenlangen Holzstückchen hervor. Ein mehrfach verästelter Zweig, hellrot vom ausgebleichten Pferdeblut. Vergebens versuchte er sich vorzustellen, bei welcher geheimen Zeremonie diese Runen Wodan geweiht worden waren. Und vergebens versuchte er, die Bedeutung der Rune zu erkennen. Er hatte Lesen und Schreiben gelernt, sogar Latein, wie es dem Prinzen von Xanten zukam, aber nicht - wie noch seine Ahnen - das Geheimnis der Runen.

»Was sagt die Rune?« fragte er mit vor Neugier zitternder Stimme.

»Das Schicksal scheint es gut mit dir zu meinen, Siegfried. Du hast die Rune Gebo gewählt. Sie ist ein Zeichen Wodans und verkörpert das Schenken.«

»Was heißt das?«

»Gebo meint den, der schenkt, aber auch den, der beschenkt wird. Du hältst die Rune in richtiger Stellung in deiner Hand, nicht mit der Unterseite nach oben. Wodan verheißt gutes Gelingen. Jetzt hege ich keinen Zweifel mehr, daß der Göttervater dich als würdigen Träger seines Geschenks anerkennt.«

Siegfrieds Zweifel, ob Reinhold wirklich an den alten Göttervater Wodan glaubte, wurde von fieberhafter Erregung verdrängt. Von der Aussicht auf Siegmunds Erbe, auf das Runenschwert.

»Heißt das, Meister Reinhold, Ihr wollt mich in das Geheimnis einweihen?«

»Niemand hat ein solches Recht auf das Runenschwert wie du. Ich nenne dir die Verstecke im Vertrauen darauf, daß du nicht leichtfertig wie ein Junge handelst, sondern wohlüberlegt wie ein Mann.«

»Das verspreche ich!«

»Den vorderen Teil der Klinge brachten Grimbert und ich in die Schlangenhöhle, ganz tief hinein ins Felslabyrinth. Sie liegt in einer Felsspalte, tagsüber beschienen von der Sonne, nachts von Mond und Sternen, die durch eine enge Kluft im Felsen ihr Licht auf die Spalte werfen.«

Siegfried kannte den Ort, ein schlangenartig geformtes Felsgebilde in den großen Wäldern, südwestlich von Xanten. Dort, im Schlangenwald, wie das Gebiet nach der Höhle genannt wurde, gingen Könige und Edle mit Vorliebe auf die Jagd. Aber die Schlangenhöhle wagte keiner zu betreten, aus Angst vor den Schlangen, die dort zu Hunderten nisten sollten.

»Und die andere Hälfte?« erkundigte sich der Jüngling.

»Die brachten wir in die Königsburg und rammten die Klinge in den Stamm des Kinderbaums, um Wodan zu versöhnen. Denn die Eiche soll von ihm selbst gepflanzt worden sein, wenn man der Sage trauen darf. Jedenfalls sollte er sein Schwert zurückerhalten. Und er scheint die Gabe angenommen zu haben.«

»Wieso?«

»Weil seit dieser Zeit reißende Wölfe die Wälder um die Königsburg durchstreifen und jeden anfallen, der ihr zu nahe kommt. Hast du noch nicht gehört, daß man diesen Ort auch die Wolfsburg nennt?«

Siegfried nickte. Gewiß, er hatte davon gehört.

»Mit der Schlangenhöhle soll es sich ähnlich verhalten. Mehr Schlangen als je zuvor sollen sich dort tummeln.«

»Wodans Geschöpfe?« fragte Siegfried, erfüllt von einer Mischung aus Unglauben und wohligem Schauer.

»Vielleicht. Aber nur dann, wenn man die alten Götter nicht zur Lüge erklärt.«

Kapitel 2

»Brrr, Graufell, halt schon an!« rief der einsame Nachtreiter mit strenger, doch zugleich warmer Stimme. Der gleichmäßige Hufschlag verklang und wich einer Stille, wie sie nur in tiefer Nacht so bedrohlich wirken konnte. Auf einer Anhöhe zügelte Siegfried sein Pferd und starrte über das Land, das dunkel war im Schutz der Nacht. Wiesen verschmolzen mit Sträuchern, Sträucher mit Bäumen, Bäume mit Felsen, Felsen mit Hügeln. Das lederne Sattelzeug knarrte, als der junge Reiter seinen großen, kräftigen Körper reckte, sich vorbeugte und auf das düstere Land voraus starrte, das sich in sanften Wellen hinzog, bis es irgendwo in weiter Ferne mit dem Nachthimmel verschmolz. Der Jüngling strich eine Tolle seines sandfarbenen Haares aus der Stirn und strengte die Augen an.

Da frischte der Wind auf und blies kalt über sein knochiges Antlitz und über die nackten Arme, die aus dem ärmellosen Lederwams lugten. Es schien ihm auf einmal ungewöhnlich kalt für diese Jahreszeit, und er verwünschte seine Hast, in der er ohne einen Umhang losgeritten war. Seltsam: Er spürte die Kälte erst hier in den einsamen Wäldern. Auf der Schwertburg war es ihm wie eine laue Sommernacht erschienen.

Doch die Schwertburg lag weit zurück. Siegfried suchte jetzt die alte Königsburg, die man auch die Wolfsburg nannte, irgendwo im Westen. Doch wo war Westen in diesem Meer aus Finsternis?

Die Umrisse von Felsgruppen und Wäldern zeichneten sich deutlicher ab. Zufrieden erkannte der Reiter, daß der Wind die Wolken vertrieben hatte, die sich zwischen die Gestirne und das Land geschoben hatten wie ein Schild zwischen Leib und feindliche Klinge.

Und dann sah er auch den einzelnen mächtigen Baum, der sich auf einem Hügel erhob, mitten aus einem großen Felsen wuchs, wie es schien. Aber es war kein Felsen. Der Reiter erkannte Türme und Zinnen.

»Die Wolfsburg!« flüsterte er andächtig. »Wind, Mond und Sternen sei Dank!«

Schon wollte er die Fersen in die Flanken des grauen Hengstes drücken, da fiel ein riesiger Schatten auf Mann und Pferd. Ein Schemen, der geradewegs aus dem Himmel zu fallen schien und den fast vollen Mond verdunkelte. Als der Jüngling den Kopf in den Nacken legte, sah er die Gestalt eines Vogels - eines großen Raubvogels. Seine schwarzen Umrisse zeichneten sich deutlich vor der gelben Mondscheibe ab; er schien genau über dem Reiter zu schweben.

Reinhold hatte ihn in allen Bereichen der Jagd unterwiesen, und so erkannte der Reiter an den Flügeln sofort den Falken.

Aber das war unmöglich!

Der Falke jagte doch bei Tag!

Außerdem war das Tier ungewöhnlich groß, größer noch als ein Steinadler! Oder war es eine Täuschung, hervorgerufen durch das unwirkliche Mondlicht?

Siegfried wischte mit dem Handrücken über seine Augen und sah erneut den Mond an. Das helle Rund erstrahlte ungetrübt.