Aber dann verschwanden die Erinnerungen bis auf das verschwommene Wissen, daß sie dem Tod nur knapp entronnen waren. Sie gewannen ihre Fassung wieder und suchten weiter nach einem Ende der sie erstickenden Dunkelheit. Panamon fragte Shea leise, ob er glaube, daß sie noch auf dem richtigen Weg seien, und der kleine Talbewohner nickte kurz. Was für eine Rolle spielte es, daß er es nicht wußte? dachte Shea. Welche Richtung sollten sie sonst nehmen? Wenn seine Instinkte versagten, konnte ihnen ohnehin nichts mehr helfen. Die Elfensteine hatten ihn schon einmal gerettet; er vertraute wieder auf sie.
Er fragte sich, wie es Orl Fane bei dem Versuch ergangen sein mochte, die unheimliche Nebelwand zu durchschreiten. Vielleicht hatte der geistesgestörte Gnom seine eigene Methode gefunden, der tödlichen Wirkung zu entgehen, aber es erschien ihm unwahrscheinlich. Wenn der Gnom irgendwo hingestürzt war, konnte das Schwert als verloren gelten in der undurchdringlichen Dunkelheit; sie würden es nie mehr rechtzeitig finden. Diese schreckliche Aussicht veranlaßte Shea, sich den Kopf zu zerbrechen, zu überlegen, ob das Schwert irgendwo in der Nähe liegen mochte, vielleicht nur Meter entfernt.
Dann wurde aus der Schwärze plötzlich stumpfes Grau, und die Nebelwand lag hinter ihnen. Es geschah so schnell, daß sie völlig überrascht wurden. In der einen Minute waren sie eingehüllt in Schwärze, kaum fähig, einander zu erkennen, in der nächsten standen sie erschrocken unter dem bleiernen Himmel des Nordlandes.
Sie schauten sich um in dem Land, wo sie herausgetreten waren.
Es war das Trostloseste an Gegend, das Shea je gesehen hatte - noch düsterer als das Tiefland von Clete und die unheimlichen Schwarzen Eichen im fernen Südland. Das Gelände war nackt und unfruchtbar, eine graubraune Erde gänzlich ohne Sonne und pflanzliches Leben. Nicht einmal die robustesten Sträucher hatten hier überlebt - eine stumme Warnung, daß dies wahrlich das Reich des Schwarzen Lords war. Die Erde erstreckte sich in niedrigen, unebenen Hügeln aus hartem Lehm nach Norden, nirgends war auch nur ein Grashalm zu sehen. Stumpfe Steinblocke ragten vor dem grauen Horizont empor, und an manchen Stellen gab es staubige, trockene Rinnen, wo Flüsse schon vor langer Zeit versiegt waren. Nirgends ein Lebenslaut - nicht einmal das Summen von Insekten in der lauernden Stille. Nichts war in diesem einst lebensvollen Land geblieben als der Tod. Weit im Norden, steil in den leeren Himmel aufragend, erhob sich eine Kette schroffer Gipfel. Shea wußte, ohne fragen zu müssen, daß dies die Heimat Bronas, des Dämonen-Lords, war.
»Was schlägst du jetzt vor?« fragte Panamon Creel. »Wir haben die Fährte ganz verloren. Wir wissen nicht einmal, ob unser Gnomenfreund lebendig aus der Wand herausgekommen ist. Ich glaube eher, daß er es nicht überlebt hat.«
»Wir müssen weiter nach ihm suchen«, erwiderte Shea ruhig.
»Während diese fliegenden Wesen nach uns suchen«, betonte der andere. »Das Ganze wird gefährlicher, als ich angenommen habe, Shea. Ich muß dir offen sagen, daß ich rasch das Interesse an dieser Jagd verliere - vor allem, wenn ich nicht weiß, gegen wen oder was ich kämpfe. Wir wären vorhin beinahe gestorben, und ich konnte nicht einmal sehen, was uns bedrängt hat.«
Shea nickte verständnisvoll. Er fühlte sich plötzlich als Herr der Lage. Zum ersten Mal in seinem Leben machte Panamon Creel sich Gedanken darüber, ob er davonkommen konnte, und sei es mit schwer verwundetem Stolz. Es hing jetzt von Shea ab, dafür zu sorgen, daß die Reise weiterging. Keltset stand abseits, die braunen Augen auf den Talbewohner gerichtet, während die buschigen Brauen sich zusammenzogen. Wieder fiel Shea die Intelligenz in diesem Blick auf. Er wußte noch immer nichts über den Berg-Troll, hätte aber gern viel erfahren. Keltset schien der Schlüssel zu einem seltsamen, wichtigen Geheimnis zu sein, das nicht einmal Panamon Creel kannte, auch wenn er sich einer engen Freundschaft mit dem Riesen rühmte.
»Die Möglichkeiten sind begrenzt«, sagte Shea nach einer langen Pause. »Wir können Orl Fane auf dieser Seite der Nebelwand suchen und das Risiko auf uns nehmen, den Schädelträgern zu begegnen, oder wir können versuchen, umzukehren...« Er verstummte, als er sah, daß Panamon blaß wurde.
»Ich gehe da nicht mehr hindurch - jedenfalls nicht gleich«, erklärte der Scharlachrote nachdrücklich. Er schüttelte heftig den Kopf und hob den Armstumpf mit dem Eisenhaken, begann aber plötzlich verlegen zu grinsen. Er war zu abgehärtet, zu erfahren, um sich längere Zeit niederdrücken zu lassen. Er kämpfte die Erinnerungen an die grausigen Geschehnisse im Nebel nieder und ermannte sich. Wenn er bei diesem Abenteuer das Leben verlieren sollte, dann mit dem Mut und der Entschlossenheit, die ihm in den vielen Jahren bisher gute Dienste geleistet hatten.
»Denken wir einmal gründlich nach«, sagte er und begann wieder auf und ab zu gehen. »Wenn der Gnom nicht durch die Nebelbarriere gekommen ist, wird das Schwert dort noch liegen - wir können es uns jederzeit holen. Aber wenn er entkommen ist wie wir, wo kann er dann...?« Er verstummte plötzlich und schaute sich in der Landschaft um. Keltset trat heran und wies auf die Gipfel an der Grenze des Schädelreiches.
»Ja, natürlich, du hast wieder einmal recht«, sagte Panamon mit schwachem Lächeln. »Er muß von Anfang an dorthin unterwegs gewesen sein. Das ist der einzige Ort für ihn.«
»Zum Dämonen-Lord?« sagte Shea leise. »Bringt er ihm das Schwert?«
Der andere nickte kurz. Shea wurde blaß bei dem Gedanken, den Gnomen bis zur Schwelle des Geisterkönigs zu verfolgen, ohne die Zauberkräfte Allanons zu Hilfe rufen zu können. Würden sie entdeckt, waren sie hilflos, wenn die Elfensteine ihnen nicht beistanden. Die Steine mochten zwar gegen die Schädelträger mächtig genug gewesen sein, aber es erschien doch höchst zweifelhaft, daß sie gegen ein so furchtbares Wesen wie Brona etwas auszurichten vermochten.
Die erste Frage war, ob es Orl Fane gelungen sein konnte, den tödlichen Nebel zu durchdringen. Sie beschlossen, dem Rand der wallenden Wand nach Westen zu folgen, um vielleicht auf die Fährte zu stoßen, die der fliehende Gnom hinterlassen haben würde. Wenn sie in dieser Richtung nichts entdeckten, gedachten sie es gen Osten zu versuchen. Sollte dann von Orl Fane noch immer keine Spur zu finden sein, mußten sie annehmen, daß er im mörderischen Nebel umgekommen war, und sie würden gezwungen sein, ihn dort zu suchen, um das Schwert zurückzuholen.
Keiner war für die letzte Möglichkeit, aber Shea versprach, die Macht der Elfensteine einzusetzen, in der Hoffnung, sie würden ihnen den Weg zum Schwert weisen. Ihr Gebrauch würde zweifellos die Geisterwelt auf ihre Anwesenheit aufmerksam machen, aber sie würden dieses Risiko eingehen müssen, wenn sie in der undurchdringlichen Schwärze etwas finden wollten.
Die drei Wanderer machten sich eilig auf den Weg, und Keltset suchte unaufhörlich den Boden nach Fußspuren des Gnomen ab.
Schwerlastende Wolkenhaufen verhüllten den ganzen Himmel und breiteten einen düsteren, grauen Dunst über das Nordland.
Shea versuchte zu schätzen, wieviel Zeit vergangen war, seitdem sie in die Nebelwand eingedrungen waren, aber er fand keine Anhaltspunkte. Es mochten einige Stunden, konnten aber auch mehrere Tage gewesen sein. Jedenfalls nahm die graue Düsternis immer mehr zu und kündigte den Anbruch der Nacht und ein zeitweiliges Ende ihrer Suche nach Orl Fane an.
Die hochgetürmten grauen Wolken wurden dunkler und zogen schwerfällig am Himmel dahin. Der Wind war stärker geworden und fegte wild über die nackten Hügel und durch die tiefen Rinnen.
Es wurde rasch kälter, so kalt, daß die drei Männer sich in ihre Jagdumhänge wickeln mußten, während sie weitergingen.
Es zeigte sich bald, daß ein Sturm aufkam, und sie begriffen, daß ein starker Regenguß alle Spuren verwischen würde, die der flüchtende Gnom hinterlassen haben mochte. Und wenn sie dazu gezwungen sein sollten, zu erraten, ob er entkommen war oder nicht...