Die letzen Tabletts wurden Flick und dem kleinen Gnomen abgenommen und auf den Tisch gestellt, während die Maturen sich dort versammelten. Der kleine Gnom, der Flick mit ins Zelt gebracht hatte, wandte sich zum Ausgang, aber Flick zögerte noch einen Augenblick, um die Gestalt an der Rückseite des Zeltes genauer zu betrachten.
Es war nicht Shea. Der Mann war ein Elf, etwa Mitte Dreißig, mit kräftigen, intelligenten Zügen. Auf diese Entfernung war mehr nicht auszumachen, aber Flick glaubte, Eventine vor sich zu haben, den jungen Elfenkönig, der nach Allanons Überzeugung entscheidend für Sieg oder Niederlage des Südlandes sein mochte. Im Westland, dem großen, fernen Reich der Elfen, gab es die mächtigste Armee der freien Welt. Wenn das Schwert von Shannara unwiederbringlich verloren war, besaß allein dieser Mann die Macht, den Dämonen-Lord aufzuhalten – dieser Mann, ein Gefangener, dessen Leben jeden Augenblick ausgelöscht werden konnte.
Flick spürte eine Hand auf seiner Schulter und zuckte heftig zusammen.
»Los, los, wir müssen gehen«, flüsterte ihm der kleine Gnom zu. »Du kannst ihn ein andermal anstarren. Er wird hier sein.«
Flick zögerte erneut, als ein tollkühner Plan in ihm reifte.
Hätte er sich Zeit genommen darüber nachzudenken, wäre er gewiß davor zurückgeschreckt, aber diese Zeit hatte er nicht, und über vernünftige Überlegungen war er längst hinaus. Es war bereits zu spät, aus dem Lager zu entfliehen und zu Allanon zurückzukehren, bevor es hell wurde, und er hatte sich hierher gewagt, um eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Er gedachte noch nicht zu gehen.
»Los, sage ich, wir müssen... He, was soll das?« Der kleine Gnom schrie unwillkürlich auf, da Flick ihn grob am Arm gepackt hatte und auf die Troll-Kommandeure zustieß, die im Essen innehielten, als der Aufschrei durch das Zelt gellte. Sie starrten die beiden kleinen Gestalten verwundert an. Flick hob eine Hand und deutete fragend auf den gefesselten Gefangenen. Die Trolle folgten mechanisch seinem Blick. Flick wartete atemlos, bis einer der Trolle einen kurzen Befehl bellte, während die anderen nickten und die Achseln zuckten.
»Du bist verrückt, du hast den Verstand verloren!« keuchte der kleine Gnom entsetzt. »Was kümmert es dich, ob der Elf zu essen bekommt oder nicht? Was geht es dich an, ob er verhungert?«
Ein Troll rief sie zu sich, eine verkrümmte Hand reichte ihnen einen vollen Teller. Flick zögerte kurz und warf einen Blick auf seinen fassungslosen Begleiter, der den Kopf schüttelte und vor sich hinmurrte.
»Schau nicht mich an!« knurrte er. »Das war deine Idee! Du kannst ihn füttern!«
Flick verstand nicht alles, was der Gnom sagte, begriff aber den Sinn und beeilte sich, den Teller an sich zu nehmen. Zu keinem Zeitpunkt blickte er länger als für einen Moment in andere Gesichter, und selbst dann verbarg die tief herabgezogene Kapuze seine Züge. Er hielt den Mantel eng um sich gewickelt, als er auf den Gefangenen zuging, frohlockte aber innerlich über das Gelingen seines Plans. Wenn er nah genug an Eventine herankam, konnte er ihm klarmachen, daß Allanon in der Nähe war und man einen Befreiungsversuch unternehmen werde. Sorgenvoll warf er einen Blick über die Schulter. Die Trolle hatten sich wieder über ihre Teller gebeugt, und nur der kleine Koch sah ihm nach. Wenn Flick diesen Streich an irgendeinem anderen Ort als inmitten des feindlichen Lagers versucht hätte, wäre er wohl auf der Stelle entdeckt worden. Aber hier, im Hauptquartier der Befehlshaber, wo der schwarze Schädelträger nur Meter entfernt war, das Zelt umgeben von Tausenden von Soldaten, kam niemand auf den Gedanken, jemand könnte sich ins Lager oder gar in dieses bewachte Zelt eingeschlichen haben.
Flick ging ruhig auf den Gefangenen zu, das Gesicht unter der Kapuze verborgen, den Teller ausgestreckt. Eventine war von normaler Größe und Statur eines Mannes, wenn auch groß für einen Elf. Er trug Waldbewohnerkleidung, darüber die Reste eines Kettenpanzers, auf dem noch das Abzeichen des Hauses Elessedil undeutlich erkennbar war. Sein kräftig geschnittenes Gesicht zeigte Spuren von Schlägen und Wunden, Zeichen der Schlacht, die mit seiner Gefangennahme geendet hatte. Auf den ersten Blick schien nichts Besonderes an ihm zu sein; er stach nicht auf Anhieb hervor. Seine Miene blieb ausdruckslos, als Flick vor ihm stehenblieb. Offenbar gingen seine Gedanken in eine andere Richtung. Dann bewegte er ein wenig den Kopf, und die dunkelgrünen Augen richteten sich auf die kleine Gestalt.
Als Flick die Augen sah, erstarrte er. Sie spiegelten eine wilde Entschlossenheit, eine unbeugsame Charakterstärke und innere Überzeugung wider, die Flick auf irgendeine Weise an Allanon erinnerten. Sie griffen in ihn hinein, packten, bildlich gesprochen, seinen Geist und verlangten seine Aufmerksamkeit, seinen Gehorsam. Er hatte diesen Blick noch bei keinem gesehen, nicht einmal bei Balinor, den sie alle als natürliche Führerpersönlichkeit anerkannten. Wie die des schwarzen Druiden erschreckten ihn die Augen des Elfenkönigs. Flick senkte den Blick auf den Teller und überlegte. Mechanisch spießte er einen Fleischbissen mit der Gabel auf. Dieser Winkel des Zeltes war nur schwach beleuchtet, und der Rauch trug dazu bei, seine Bewegungen vor dem Feind zu verbergen. Nur der kleine Gnom beobachtete ihn, aber ein einziger Fehler würde genügen, um alle auf ihn zustürzen zu lassen.
Er hob langsam den Kopf, bis der Fackelschein sein Gesicht für den aufmerksamen Gefangenen erhellte. Als ihre Blicke einander begegneten, huschte ein Zucken der Überraschung über das sonst ausdruckslose Elfengesicht, und eine Braue hob sich.
Flick schob schnell die Lippen vor, um Schweigen zu gebieten, und blickte wieder auf den Teller. Eventine konnte sich nicht selbst bedienen, so daß Flick begann, ihn zu füttern. Der Elfenkönig wußte nun, daß er kein Gnom war, aber Flick fürchtete, belauscht zu werden, wenn er mit dem König sprach, selbst im Flüsterton. Er dachte plötzlich daran, daß hinter dem dicken Gobelin der Schädelträger lauerte, und wenn er ein scharfes Hörvermögen besaß... Aber es gab für Flick keine Wahl; er mußte, bevor er ging, mit dem Gefangenen sprechen. Eine zweite Gelegenheit mochte sich nicht ergeben. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, als er die Gabel an Eventines Mund führte.
»Allanon.«
Das Wort war nur gewispert, kaum vernehmbar. Eventine öffnete den Mund und nickte schwach, das Gesicht versteinert.
Flick hatte genug. Es war Zeit, von hier zu verschwinden, bevor ihn das Glück im Stich ließ. Er drehte sich langsam um und ging zurück zu dem wartenden Gnomenkoch, der halb nervös, halb angewidert wirkte. Die Troll-Befehlshaber speisten noch immer, als er an ihnen vorbeiging, und unterhielten sich leise. Sie hoben nicht einmal die Köpfe. Flick gab dem kleinen Gnom den Teller, murmelte etwas Unverständliches und hastete dann hinaus, vorbei an den Wachen, bevor sein verblüffter Begleiter reagieren konnte. Während er scheinbar unbekümmert davonschlenderte, trat der Gnom aus dem Zelt und schrie ihm etwas nach, das Flick nicht verstand. Der kleine Talbewohner drehte sich um und winkte dem Koch zu, bevor er in der Dunkelheit verschwand.
Im Morgengrauen begann die Nordland-Armee nach Süden, Richtung Callahorn, zu marschieren. Flick hatte vorher nicht aus dem Lager entwischen können; während also Allanon verbittert, und sorgenvoll von seinem Versteck zwischen den Felsen aus hinabblickte, war das Objekt seiner Befürchtungen gezwungen, seine Verkleidung einen Tag länger zu tragen. Die schweren Regenfälle am Morgen hatten Flick beinahe dazu veranlaßt, einen Fluchtversuch zu wagen, weil er überzeugt davon war, die Regengüsse würden Allanons Farbe von seiner Haut waschen und ihn entlarven. Aber eine Flucht bei Tag erwies sich als undurchführbar; er wickelte sich fest in seinen Umhang und versuchte möglichst wenig aufzufallen. Zu seiner Freude schien die gelbliche Tönung seiner Haut nicht zu verschwinden. Sie verblaßte zwar ein wenig, aber im allgemeinen Durcheinander des Aufbruchs schien das niemand zu bemerken. Tatsächlich war es das schreckliche Wetter, das Flick vor einer Entdeckung bewahrte.