Wäre es ein warmer, trockener Sommertag voll Sonnenschein gewesen, hätten die Soldaten viel eher Gelegenheit zu Scherzen und Albernheiten gehabt, und außerdem wäre kein schwerer Jagdumhang nötig gewesen, in dem man nur geschwitzt hätte.
Flick hätte ihn ablegen müssen, wie die anderen, und sich damit sofort verraten. Im hellen Licht wäre er auf der Stelle entdeckt worden. Der heftige Regen, der Flick davor rettete, erlaubte ihm, sich abseits zu halten, während die riesige Invasionsarmee durch das Grasland in das Königreich Callahorn einmarschierte.
Das schlechte Wetter hielt den ganzen Tag an und, wie sich herausstellen sollte, noch Tage darauf. Die dunklen Wolken verbarrikadierten sich zwischen Sonne und Erde in riesigen, hochgetürmten Massen. Der Regen prasselte unerbittlich herunter, gepeitscht vom Wind, oder nieselte melancholisch, um den falschen Glauben zu wecken, früher oder später müsse es damit doch ein Ende haben. Die Luft war kühl, manchmal sogar schneidend kalt, und die durchnäßten Soldaten froren erbärmlich blieb beim Marsch den ganzen Tag auf den Beinen, völlig durchnäßt, aber erleichtert darüber, daß er sich bewegen konnte, ohne aufzufallen. Er vermied es, länger bei irgendeiner Gruppe zu bleiben und wich allen Situationen aus, die dazu hätten führen können, daß sich ein Gespräch entwickelte. Die Nordland-Armee war so riesig, daß es leichtfiel, sich immer wieder anderen Trupps anzuschließen, und überdies kam ihm noch zu Hilfe, daß es keine Bemühungen zu geben schien, irgendeine Marschdisziplin aufrechtzuerhalten. Entweder nahm man es mit der Disziplin im allgemeinen nicht so genau, oder die einzelnen Soldaten waren so gedrillt, daß man keine Offiziere als Aufsicht brauchte.
Flick konnte sich letzteres eigentlich nicht vorstellen und vermutete, daß die Angst vor den allgegenwärtigen Schädelträgern und ihrem unheimlichen Meister die Trolle und Gnome daran hinderte, sich irgendwelche Frechheiten zu erlauben. Jedenfalls blieb der kleine Talbewohner ein unauffälliger Angehöriger der Nordland-Streitmacht. Er gedachte den Einbruch der Nacht abzuwarten, bevor er die Flucht ergriff, um Allanon wiederzufinden.
Am späten Nachmittag hatte die Armee den über die Ufer getretenen oberen Mermidon unmittelbar gegenüber der Inselstadt Kern erreicht. Wieder schlug die Armee ein Lager auf. Die Befehlshaber begriffen, daß der Mermidon infolge der schweren Regenfälle nicht ohne große Risiken überwunden werden konnte; man würde auch unter normalen Bedingungen viele riesengroße Flöße brauchen, um die Soldaten überzusetzen und das andere Ufer zu erobern. Es gab keine Flöße, also mußten sie gebaut werden. Das erforderte mehrere Tage, und man rechnete damit, daß bis dahin der Regen nachlassen, das Hochwasser zurückgehen und eine unbehinderte Uberquerung des Stroms möglich sein würde. Auf der anderen Seite, in Kern, war die Streitmacht entdeckt worden, während Menion Leah noch im Hause Shirl Ravenlocks schlief, und die Menschen gerieten in Panik, als sie das Ausmaß der Gefahr, in der sie schwebten, erkannten.
Die feindliche Invasionstruppe konnte es sich nicht leisten, Kern zu umgehen und direkt nach Tyrsis vorzustoßen.
Kern mußte genommen werden; infolge der verringerten Garnison würde das nicht schwer sein. Nur der anschwellende Fluß und der Sturm verhinderten zunächst den Angriff.
Flick wußte von diesen Dingen nichts und dachte nur an die Flucht. Der Sturm mochte in wenigen Stunden aufhören, so daß Flick mitten im feindlichen Lager der Entdeckung ausgesetzt war. Schlimmer noch, die Invasion ins Südland hatte begonnen, und jeden Tag konnte es zu einer Schlacht mit der Grenzlegion kommen. Er konnte in die Gefahr geraten, als vermeintlicher Gnom gegen seine eigenen Freunde kämpfen zu müssen.
Flick hatte sich seit seiner ersten Begegnung mit Allanon vor Wochen in Shady Vale sehr verändert. Er hatte eine innere Kraft und Reife erlangt, ein Selbstvertrauen, dessen er sich nie für fähig gehalten hätte. Aber die vergangenen vierundzwanzig Stunden hatten ihn auf eine überaus harte Probe gestellt, eine so harte, daß selbst der erfahrene Höndel daran zu beißen gehabt hätte. Der kleine Talbewohner, unerfahren und verwundbar, spürte, daß er nahe daran war, die Nerven zu verlieren, sich ganz dem schrecklichen Gefühl von Angst und Zweifel zu überlassen, das ihn bei jedem Schritt begleitete.
Shea war der Anlaß für seine Entscheidung gewesen, die gefahrvolle Reise nach Paranor zu wagen, und mehr noch, er war derjenige gewesen, der einen beruhigenden Einfluß auf den pessimistischen, mißtrauischen Flick ausgeübt hatte. Nun war Shea schon seit vielen Tagen spurlos verschwunden, niemand wußte, ob er überhaupt noch lebte, und sein Bruder gab zwar nicht die Hoffnung auf, ihn früher oder später wiederzufinden, aber er hatte sich auch in seinem ganzen Leben noch nie so einsam gefühlt, Nicht nur befand er sich in einem fremden Land, hineingezogen in ein wahnsinniges Unternehmen gegen ein geheimnisvolles Wesen, das nicht einmal von dieser Welt war, senden er stand auch noch ganz allein inmitten Tausender von Nordländern, die ihn ohne Bedenken töten würden, sobald sie entdeckten, wer er in Wirklichkeit war. Die ganze Situation war unerträglich, und er fing an zu bezweifeln, daß irgend etwas von seinen Handlungen sinnvoll gewesen sei.
Während die riesige Armee am Ufer des Mermidon im Schatten der Abenddämmerung kampierte, irrte ein bedrückter, angstvoller Flick unsicher durch das Lager und versuchte verzweifelt, an seiner Entschlossenheit festzuhalten. Es regnete immer noch unablässig, und aus den Soldaten wurden verschwommene Schatten, die durcheinanderwimmelten, während das Wasser alles durchtränkte. Bei solchem Wetter konnte man nicht einmal Lagerfeuer entzünden, so daß der Abend dunkel und undurchdringlich blieb. Flick schlich lautlos herum und registrierte den Ort des Hauptquartiers, die Anordnung der Gnomen- und Troll-Streitkräfte und die Aufstellung der Postenlinien, da er glaubte, sein Wissen könne für Allanon von Nutzen sein, wenn es darum ging, die Flucht des Elfenkönigs in die Wege zu leiten.
Ohne Schwierigkeiten fand er das große Zelt wieder, in dem die Maturen der Trolle und ihr wertvoller Gefangener untergebracht waren, aber es war, wie das ganze Lager, dunkel und kalt, eingehüllt in Nebel und Regen. Er hatte nicht einmal die Gewißheit, daß Eventine sich dort noch aufhielt; er mochte in ein anderes Zelt gebracht oder auf dem Marsch nach Süden fortgeschafft worden sein. Die beiden riesigen Troll-Wachen standen nach wie vor am Zelteingang, aber im Inneren schien sich nichts zu regen.
Flick starrte das Zelt lange an und schlich wieder davon.
Als die Nacht herabsank und die Soldaten sich zum Schlafen niederlegten, beschloß Flick, die Flucht zu wagen. Er hatte keine Ahnung, wo er Allanon finden konnte; er vermutete nur, daß der Druide der Invasionsarmee nach Süden gefolgt war. In der Dunkelheit und im Regen würde es nahezu unmöglich sein, ihn aufzustöbern, und er konnte bestenfalls hoffen, sich irgendwo verbergen zu können, bis es hell wurde, um dann auf die Suche zu gehen. Er huschte zum Ostrand des Lagers, stieg vorsichtig über schlafende Gestalten, wand sich zwischen Bagage und Rüstungen hindurch, noch immer in seinen durchnäßten Jagdumhang gehüllt.
Er hätte in dieser Nacht wohl sogar ohne jede Verkleidung durch das Heerlager gehen können. Zur Dunkelheit und dem inzwischen nachlassenden Regen kam noch ein tief hängender, wallender Nebel, der über das Grasland herangekrochen war und alles so dicht einhüllte, daß man kaum zwei Meter weit sehen konnte. Ohne es zu wollen, dachte Flick wieder an Shea. Die Suche nach seinem Bruder war der eigentliche Anlaß für ihn gewesen, sich ins Lager zu schleichen. Er hatte über Shea nichts erfahren, allerdings damit auch kaum gerechnet. Er war durchaus darauf vorbereitet gewesen, entdeckt und gefangengenommen zu werden, kaum, daß er sich ins Lager geschlichen hatte, aber noch immer war er frei. Wenn er jetzt zu entkommen und Allanon zu finden vermochte, wenn es ihnen gelingen sollte, den Elfenkönig zu befreien und...