Flick blieb plötzlich stehen und duckte sich neben einem mit Segeltuch abgedeckten Bagagestapel. Selbst wenn er auf irgendeine Weise den Druiden ausfindig machte, was konnten sie für Eventine tun? Es erforderte Zeit, Balinor in der ummauerten Stadt Tyrsis zu erreichen, und viel Zeit blieb ihnen nicht mehr.
Was würde aus Shea werden, während sie sich bemühten, Eventine zu befreien - wer war für das Südland wichtiger als Flicks Bruder, seitdem das Schwert von Shannara verlorengegangen war? Aber vielleicht wußte Eventine etwas über Shea? Vielleicht wußte er, wo Shea sich befand - vielleicht sogar, wohin man das mächtige Schwert gebracht hatte?
Flicks erschöpftes Gehirn begann die Möglichkeiten zu überdenken.
Er mußte Shea finden; nichts war im Grunde wichtiger für ihn. Es gab niemanden mehr, der ihm helfen konnte, seitdem Menion sich auf den Weg gemacht hatte, die Städte von Callahorn zu warnen. Selbst Allanon schien seine gewaltigen Reserven ohne Erfolg ausgeschöpft zu haben. Aber Eventine mochte wissen, wo Shea war, und Flick allein war in der Lage, in diesem Punkt etwas zu unternehmen.
Fröstelnd wischte er sich den Regen vom Gesicht und starrte in den Nebel. Wie konnte er auch nur daran denken, dort noch einmal hinzugehen? Er stand am Rande der Panik und Erschöpfung, selbst wenn er kein weiteres Risiko mehr auf sich nahm.
Aber die Nacht war ideal geeignet - dunkel, neblig, undurchdringlich.
Eine solche Gelegenheit mochte sich in der kurzen, noch verfügbaren Zeit nicht mehr einstellen, und niemand konnte sie nutzen außer ihm. Wahnsinn - Wahnsinn! dachte er verzweifelt. Wenn er noch einmal hinging, wenn er versuchte, Eventine auf eigene Faust zu befreien... würde man ihn töten.
Aber plötzlich entschied er, daß dies genau das war, was er tun würde. Shea war der einzige, der ihm wirklich am Herzen lag, und der Elfenkönig schien allein Kenntnis davon zu haben, was mit seinem vermißten Bruder geschehen war. Flick war alleine so weit gekommen, hatte vierundzwanzig qualvolle Stunden lang versucht, sich zu verbergen, am Leben zu bleiben in einem Lager voller Feinde, die ihn nicht zu bemerken schienen. Es war ihm sogar gelungen, in das Zelt der Troll-Kommandeure vorzudringen, nah genug an den großen König des Elfenvolks heranzukommen, um ihm eine kurze Nachricht zu übermitteln. Vielleicht war dies alles das Ergebnis blinden Zufalls gewesen, ein flüchtiges Wunder, aber konnte er jetzt die Flucht ergreifen, obwohl er so wenig vorzuweisen hatte? Er lächelte schwach über sein eigenes dumpfes Gefühl für das Heroische. Eine unwiderstehliche Herausforderung gewann Macht über ihn, nachdem er sich bislang immer erfolgreich dagegen gewehrt hatte. Wahrscheinlich würde sie seinen Untergang herbeiführen. Frierend, erschöpft, dem seelischen und körperlichen Zusammenbruch nahe, gedachte er trotzdem diesen letzten Einsatz zu wagen, einfach, weil die Umstände ihn zu dieser Zeit an diesen Ort geführt hatten. Ihn allein. Menion Leah würde grinsen, wenn er das sehen könnte, dachte Flick grimmig und wünschte sich gleichzeitig, der wilde Hochländer möge hier sein, um ihm etwas von seinem unbekümmerten Mut abzugeben. Aber Menion war nicht hier, und die Zeit verrann schnell.
Dann war er, fast ohne es selbst zu merken, durch das Lager zurückgegangen und kauerte atemlos vor dem großen Maturen-Zelt. Regen und Schweiß rannen in kleinen Bächen über sein erhitztes Gesicht in die tropf nasse Kleidung, während er regungslos auf das Zelt starrte. Von neuem überfielen ihn die Zweifel.
Das grauenhafte Wesen, das dem Dämonen-Lord diente, war beim ersten Mal dortgewesen, ein schwarzes, seelenloses Instrument des Todes, das Flick vernichten würde, ohne nachzudenken.
Es mochte auch jetzt im Zelt sein, schlaflos wachend, wartend, vorbereitet auf eben einen solchen Versuch, wie Flick ihn unternehmen wollte. Schlimmer noch, der Elfenkönig konnte fortgebracht worden sein...
Flick schob die Zweifel beiseite und atmete tief ein. Langsam nahm er seinen ganzen Mut zusammen, den Blick auf das Zelt gerichtet, das in der Dunkelheit als nebliger Schatten aufragte. Er konnte nicht einmal die Umrisse der riesigen Troll-Wachen erkennen.
Er griff unter den Umhang und zog das kurze Jagdmesser hervor, seine einzige Waffe. Er prägte sich innerlich noch einmal die Stelle ein, wo Eventine bei der ersten Begegnung gesessen hatte, dann kroch er langsam vorwärts.
Er kauerte an der nassen Leinwand des Riesenzelts, den kalten Stoff am Gesicht, während er auf die Geräusche im Inneren lauschte. Eine Viertelstunde verging, während er regungslos im Dunkeln verharrte und die Atemzüge und Schnarchlaute im Zelt an sein Ohr dringen ließ. Er erwog kurz, durch den Eingang ins Zelt zu schleichen, verwarf diesen Gedanken aber wieder, weil er wußte, daß er im Dunkeln über eine Anzahl schlafender Trolle würde hinwegsteigen müssen, um dorthin zu gelangen, wo er Eventine vermutete. Stattdessen suchte er sich die Stelle aus, wo nach seiner Erinnerung der schwere Gobelin als Trennwand hing - die Ecke, wo der Elfenkönig an einen Stuhl gefesselt gewesen war. Er stach das Messer in die Leinwand und begann senkrecht zu schneiden, Zentimeter für Zentimeter.
Er konnte sich später nicht mehr erinnern, wie lange er gebraucht hatte, um die Zeltwand aufzuschlitzen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, und er wagte dabei kaum zu atmen. Mit der Zeit kam er sich vor, als sei er mutterseelenallein in dem riesigen Lager, verlassen von allem menschlichen Leben im schwarzen Leichentuch des Nebels. Niemand kam in seine Nähe, jedenfalls sah er keinen vorbeigehen, und kein Laut drang an sein Ohr. Er mochte in diesen verzweifelten Minuten wahrlich allein auf der Welt sein...
Dann klaffte ein langer, vertikaler Schlitz in der Zeltwand und lud ihn ein, hineinzusteigen. Vorsichtig schob er die Hände hinein und tastete herum, fand nichts als den trockenen, aber kalten Zeltboden. Er zwängte den Kopf durch den Schlitz und starrte angstvoll in die tiefe Schwärze des Zeltinneren, wo die Trolle schliefen. Er wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und wünschte sich verzweifelt, seine Atemzüge möchten in seinen Ohren nicht so laut klingen. Er kam sich nackt und schutzlos vor.
Seine Augen brauchten viel zu lange, um sich anzupassen, und er durfte nicht riskieren, in diesen Sekunden von einem zufällig vorbeikommenden Soldaten entdeckt zu werden. Er schob seinen Körper in das Innere des Zeltes. Die Atemzüge und Schnarchlaute stockten, und ab und zu drehte sich jemand auf die Seite, aber niemand wurde gänzlich wach. Flick kauerte endlose Minuten an seinem Platz und blickte in höchster Spannung um sich, bemüht, die Umrisse von Männern, Tischen und Gepäck in der Schwärze des Inneren zu erkennen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber endlich vermochte er die am Boden liegenden Gestalten auszumachen, die fest in ihre Decken gewickelt waren. Zu seinem Erstaunen entdeckte er, daß eine einzelne Gestalt nur Zentimeter von ihm entfernt am Boden lag. Hätte er versucht, seinen Weg gleich fortzusetzen, wäre er über den Schläfer gestolpert und hätte ihn gewiß geweckt. Die Angst flutete wieder in ihn hoch, und einen Augenblick lang mußte er die Panik niederkämpfen, die ihm die Luft abzuschnüren drohte. Er spürte, wie der Schweiß an seinem zusammengekauerten Körper herunterlief, wie seine Atemzüge immer kürzer und verkrampfter wurden. In diesen Sekunden war er sich der winzigsten Einzelheiten bewußt, sein Verstand lief Gefahr, einen Zusammenbruch zu erleiden - aber später konnte er sich an alle diese Dinge nicht mehr erinnern. Sein Gehirn löschte sie barmherzigerweise aus, und alles, was blieb, war ein scharfes Bild, eingeätzt in sein Gedächtnis, die schlafenden Maturen, und das Ziel seiner Suche - Eventine. Flick entdeckte schnell, daß die schmale Gestalt nicht mehr auf dem Stuhl in der Ecke saß, sondern nur wenige Meter von ihm entfernt auf dem Zeltboden lag.
Die dunklen Augen waren offen und wachsam. Flick hatte die richtige Stelle für sein Eindringen gefunden, und nun schlich er katzengleich zum König und durchtrennte mit dem Messer die Fesseln an Hand- und Fußgelenken.