Die Zeit lief ab. Binnen Minuten würde die ganze Armee auf den Beinen und kampfbereit sein, und sobald man entdeckt hatte, daß er entkommen war, würde man ihm Fährtensucher nachschicken. Er konnte Sicherheit finden, wenn es ihm gelang, die Grenzen von Kern zu erreichen, genau südlich, oder wenn er sich zu den Drachenzähnen und den Wäldern im Osten durchzuschlagen vermochte. Beides würde Stunden erfordern, und seine Kraft ließ nach. Er durfte jetzt nicht zögern, selbst wenn es nahezu sichere Entdeckung bedeutete, ungeschützt hinauszutreten.
Kühn gingen die beiden zwischen zwei Postentrupps hindurch und sahen weder nach links noch nach rechts, als sie das freie offene Grasland erreichten. Es gelang ihnen, nicht aufzufallen, bis sie die Postenkette fast schon hinter sich hatten. Plötzlich wurden sie von mehreren Wachen gleichzeitig entdeckt, die sie anriefen.
Eventine drehte sich kurz zur Seite und winkte mit dem gesunden Arm. Er erwiderte den Anruf in der Trollsprache, ohne den Schritt auch nur zu verlangsamen. Flick folgte ihm, während die Wachen ihnen unsicher nachblickten. Dann stieß einer von den Posten einen Schrei aus und lief ihnen nach. Mit erregten Bewegungen und Rufen forderte er sie auf, umzukehren. Eventine schrie Flick zu, die Beine in die Hand zu nehmen, und die Jagd begann. Die beiden Männer versuchten zu entkommen, als an die zwanzig Wachen die Verfolgung aufnahmen, ihre Piken schwangen und wild durcheinanderbrüllten.
Es war von Anfang an ein ungleiches Rennen. Eventine und Flick waren leichtfüßiger und schlanker, und unter gewöhnlichen Umständen wären sie ihren Verfolgern rasch enteilt. Der Elfen-König war jedoch schwer verwundet, und Flick konnte sich vor Erschöpfung kaum mehr richtig auf den Beinen halten.
Die Verfolger waren frisch und kräftig, ausgeruht und gut ernährt.
Flick wußte, daß ihre einzige Hoffnung darin liegen konnte, sich im Nebel und der Dunkelheit zu verlieren, in der Erwartung, ihre Feinde würden sie dann nicht mehr finden.
Keuchend, mit mühsamen Schritten, trieben sie ihre Körper bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit. Alles verschwamm vor ihren Augen, als sie auf dem glatten Gras in den wabernden Nebel hineinwankten. Sie liefen, bis sie glaubten, nicht mehr laufen zu können, und noch immer war nichts von Bergen, von Wald, von einem Versteck zu sehen.
Plötzlich tauchte aus der Dunkelheit vor ihnen eine Eisenpike auf, die Eventines Umgang durchbohrte und ihn am Boden festnagelte. Die äußere Postenkette, dachte Flick entsetzt – daran hatte er nicht mehr gedacht! Eine undeutliche Gestalt tauchte aus dem Nebel auf und stürzte sich auf den am Boden liegenden Elfenkönig.
Mit letzter Kraft warf sich Eventine zur Seite, um dem Schwerthieb zu entgehen. Die Klinge bohrte sich neben seinem Kopf in die Erde. Er riß seine eigene Waffe herum und in die Höhe. Die anstürmende Gestalt brach zusammen, durchbohrt von der Schwertklinge.
Flick stand wie angewurzelt und schaute sich wild nach anderen Angreifern um. Sie blieben aus. Der Posten war allein gewesen. Flick lief auf seinen Begleiter zu, riß die Pike heraus und zog den erschöpften Elfenkönig mit seiner letzten Kraft in die Höhe.
Eventine machte ein paar Schritte und sank wieder zu Boden.
Flick ließ sich erschrocken auf die Knie nieder und versuchte ihn auf die Beine zu bringen.
»Nein - nein, es ist aus«, stieß Eventine heiser hervor. »Ich kann nicht weiter...«
Hinter ihnen tönten die Schreie der Nordländer aus der Dunkelheit.
Die Verfolger rückten näher. Wieder versuchte Flick vergeblich, die schlaffe Gestalt hochzuziehen. Diesmal reagierte Eventine gar nicht mehr. Hilflos starrte Flick in die Finsternis, das Jagdmesser umklammernd. Das war das Ende. In letzter Verzweiflung schrie er gellend in die Dunkelheit und den Nebel hinein.
»Allanon! Allanon!«
Der Ruf verhallte in der Nacht. Der Regen prasselte nun wieder auf eine schon durchtränkte Erde, und im Gras bildeten sich immer größere Lachen und kleine Seen. Bis zu Mordendämmerung war es nur noch eine Stunde. Man konnte das bei solchem Wetter schwer schätzen. Flick kauerte stumm neben dem bewußtlosen Elfenkönig und hörte, wie die Soldaten der Nordland-Armee näher und näher kamen. An ihren Stimmen war zu erkennen, daß sie gar nicht mehr weit entfernt waren, auch wenn sie ihn noch nicht gesehen hatten. Und der größte Hohn für Flick schien zu sein, daß er noch immer nicht wußte, was mit Shea geschehen war, obwohl er Eventine befreit hatte. Schreie auf seiner linken Seite ließen ihn herumfahren. Verschwommene Gestalten tauchten aus dem Nebel auf. Man hatte ihn gefunden. Grimmig stand er auf, um sie zu erwarten und zu sterben.
Einen Augenblick später explodierte die dunstige Dunkelheit zwischen ihnen in einem blendenden Feuerblitz, der aus der Erde zu brechen schien. Der ungeheure Druck schleuderte Flick zu Boden, wo er betäubt und geblendet liegenblieb. Ein Regen von Funken und brennendem Gras fiel auf ihn herab, und der Donner einer langen Reihe von Explosionen ließ den Boden erzittern.
Einen Augenblick lang waren die Nordland-Soldaten schattenhafte Gestalten, erfaßt vom gleißenden Licht, im nächsten waren sie zur Gänze verschwunden. Säulen knisternder Flammen fauchten wie Riesenzungen in die Nacht empor, durch Dunkelheit und Nebel hinauf zum Himmel. Flick starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Mahlstrom der Vernichtung und glaubte, das Ende der Welt sei gekommen. Endlose Minuten lang loderte der Feuerwall himmelwärts und versengte die Nachtluft, bis die Hitze Flicks Haut zu verbrennen drohte. Dann zuckte die Wand mit einem letzten Auffauchen von Energie grell auf und verschwand in einem Wirbel von Rauch und Dampf, verschmolz mit Nebel und Regen, bis nur noch die starke Hitze der Nachtluft blieb, die sich aber rasch verflüchtigte.
Flick erhob sich vorsichtig auf ein Knie und starrte in die Leere, dann fuhr er herum, als er hinter sich jemanden eher herankommen fühlte als hörte. Aus dem wallenden Nebel und Dampf tauchte eine riesenhafte schwarze Gestalt auf, gekleidet in fließende Roben, die Arme ausgestreckt, als wolle der Todesengel sich seine Beute holen. Flick riß in dumpfem Entsetzen die Augen auf, dann erkannte er schlagartig die Gestalt, die sich ihm näherte. Es war der schwarze Wanderer. Es war Allanon.
28
Der Morgen war eben mit gleiß ender Helligkeit an einem wolkenlosen, dunkelblauen Himmel heraufgekommen, als der letzte Trupp von Flüchtlingen aus der Inselstadt Kern Tyrsis erreichte und durch ein Tor der gewaltigen Außenmauer schritt. Verschwunden waren der feuchte, undurchdringliche Nebel und die riesige schwarze Decke aus Gewitterwolken, von denen das Land Callahorn so viele Tage eingehüllt gewesen war. Das Grasland blieb durchtränkt und übersät von kleinen Pfützen, die der gesättigte Boden noch nicht hatte aufnehmen können, aber der anhaltende Regen war weitergezogen, abgelöst von klarem Himmel und Sonne, die dem Morgen Fröhlichkeit verliehen. Die Bewohner von Kern waren über Stunden hinweg in versprengten Gruppen eingetroffen, allesamt erschöpft, entsetzt von dem Geschehenen, in Angst vor dem Bevorstehenden. Ihre Heimat war zur Gänze zerstört. Alle wussten noch gar nicht, dass die Nordländer nach dem unerwarteten Angriff auf ihr Heerlager alles in Brand gesteckt hatten.
Die Evakuierung der todgeweihten Stadt war ein Wunder an Erfolg gewesen. Die Menschen besaßen zwar kein Zuhause mehr, aber sie waren am Leben und, für den Augenblick, in Sicherheit. Die Nordländer hatten den Massenausbruch nicht bemerkt, weil ihre Aufmerksamkeit ganz von dem tapferen Haufen der Legionärssoldaten in Anspruch genommen worden war. Die Legionäre hatten das Heerlager angegriffen und erreicht, dass selbst die am weitesten vorgeschobenen Außenposten zurückgeholt worden waren, da man der irrigen Ansicht gewesen war, es handele sich um einen Großangriff. Bis der Feind dahinter kam, dass es sich nur um ein Ablenkungsmanöver handelte, das Verwirrung stiften sollte, war die Insel schon evakuiert; die Bevölkerung hatte sich auf dem schnellströmenden Mermidon-Fluß in Sicherheit gebracht und war vom wutentbrannten Feind nicht mehr einzuholen gewesen.