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Menion Leah betrat als einer der letzten die ummauerte Stadt, zerschlagen und ausgelaugt. Die Wunden an seinen Füßen hatten sich auf dem Zehnmeilenmarsch vom Mermidon nach Tyrsis wieder geöffnet, aber er hatte es abgelehnt, sich tragen zu lassen. Mit letzter Kraft schleppte er sich die breite Rampe zum Tor in der Außenmauer hinauf, auf der einen Seite gestützt von der getreuen Shirl, die ihm keinen Schritt von der Seite gewichen war, auf der anderen gehalten von dem ebenso müden Janus Senpre.

Der jugendliche Legionskommandeur hatte die Kämpfe der grausamen nächtlichen Schlacht überlebt und war auf demselben kleinen Floß entkommen, das auch Menion und Shirl fortgetragen hatte. Die Strapazen, die sie hatten erdulden müssen, hatten sie einander näher gebracht, und auf der Fahrt nach Süden hatten sie offen, wenngleich mit gedämpften Stimmen, über die Auflösung der Grenzlegion gesprochen. Sie waren sich einig darin, dass die Legion gebraucht wurde, wenn Tyrsis den Ansturm einer Streitmacht von der Größe der Nordland-Armee überstehen wollte. Überdies besaß nur der vermisste Balinor genug Erfahrung und Geschicklichkeit im Kampf, um sie zu führen. Der Prinz musste also schnell gefunden und an die Spitze der Legion gestellt werden, wenngleich sein Bruder sich dieser Maßnahme zweifellos widersetzen würde; ebenso gewiss war, dass dieser die Wiederaufstellung der legendären Streitmacht ablehnen würde, die er in so unsinniger Weise aufgelöst hatte.

Weder Menion Leah noch Janus Senpre ahnten in diesem Augenblick, wie schwer ihre Aufgabe sein würde, obwohl sie vermuteten, dass Balinor von seinem Bruder festgesetzt worden war, als er vor einigen Tagen Tyrsis erreicht hatte. Nichts desto weniger waren sie entschlossen, Tyrsis nicht so leicht aufzugeben wie Kern. Diesmal musste man sich stellen und kämpfen.

Ein Trupp schwarzgekleideter Palastwachen empfing die kleine Gruppe am Tor der Stadt, übermittelte herzliche Grüße des Königs und bestand darauf, sie sofort zu ihm zu bringen. Als Janus Senpre erwiderte, er habe gehört, der König sei todkrank und bettlägerig, fügte der Offizier schnell, wenn auch verspätet hinzu, die Einladung stamme von Palance, dem Sohn des Königs. Nichts hätte Menion lieber sein können - er brannte darauf, hinter die Palastmauern zu gelangen, um sich dort umzusehen. Vergessen waren Erschöpfung und Schmerzen, wiewohl die Begleiter bereitstanden, jederzeit helfend einzugreifen. Der Offizier winkte den Wachen an der Innenmauer, und man brachte einen reichgeschmückten Wagen, der die Neuankömmlinge zum Palast bringen sollte. Menion und Shirl stiegen ein, aber Janus Senpre lehnte es ab, sie zu begleiten; er wolle sich zuerst um das Wohl seiner Soldaten in den verlassenen Legionskasernen kümmern. Mit entwaffnendem Nachdruck versprach er, ihnen später zu folgen.

Als der Wagen zur Innenmauer fuhr, winkte der jugendliche Kommandeur Menion noch einmal zu, dann marschierte er, begleitet vom grauhaarigen Fandrez und einigen ausgewählten Offizieren, zu den Kasernen der Legion. Menion lächelte in der Kutsche schwach vor sich hin und hielt Shirls Hand in der seinen.

Der Wagen rollte durch das Innentor und erreichte die Hauptstraße, auf der es von Leben wimmelte. Die Bevölkerung der ummauerten Stadt war an diesem Tag früh aufgestanden, um die unglücklichen Flüchtlinge aus der Schwesterstadt zu begrüßen und sowohl Freunden als auch Fremden Essen und Unterkunft anzubieten. Alle wollten mehr wissen über das riesige Invasionsheer, das sich nun ihrer eigenen Stadt näherte. Überall standen sorgenvolle, ängstlich wirkende Menschen, sprachen bedrückt miteinander und blickten verwundert auf die langsam vorbeirollende Kutsche mit ihrer Eskorte. Einzelne zeigten mit Fingern oder winkten erstaunt, als sie das schlanke Mädchen erkannten, das im Wagen saß, blass und müde wirkend. Menion neben ihr biss die Zähne zusammen, als die Schmerzen in den Füßen wieder zunahmen. Nun war er froh darüber, nicht mehr gehen zu müssen.

Gebäude, Straßen und Plätze der großen Stadt huschten vorbei, überall herrschte Gedränge. Der Hochländer atmete tief ein und lehnte sich zurück in die Polster, Shirls Hand noch immer in der seinen. Er schloss ein wenig die Augen und verlor sich in dem grauen Nebel, der seine Gedanken einhüllte. Die Stadt mit ihren Menschenmengen verblasste zu einem Hintergrundsummen, das ihn einlullte.

Er war im Begriff, ganz einzuschlafen, als er eine Hand an seiner Schulter spürte. Er richtete sich auf und sah vor ihnen das weite Palastgelände liegen, ais die Kutsche zur Sendic-Brüc ke hinauffuhr. Menion schaute hinunter auf die von der Sonne beschienenen Parks und Gärten unter der Brücke. Von Bäumen beschattet, prangten Blumenbeete in allen Farben. Alles sah friedlich und behaglich aus, so, als gehöre dieser Teil der Stadt nicht zur übrigen turbulenten Welt.

Am anderen Ende der Brücke öffneten sich die Tore zum Palast. Menion riss ungläubig die Augen auf. Entlang der ganzen Einfahrt standen Soldaten der Palastwache, makellos in ihren schwarzen Uniformen mit dem Abzeichen des Falken, in starrer Habachtstellung. Trompeten verkündeten das Eintreffen der Kutsche und ihrer Insassen. Menion Leah war erstaunt. Man empfing sie mit allen Ehren, wie sie gewöhnlich nur den höchsten Führern der vier Länder zuerkannt wurden, eine Tatsache, auf welche die wenigen Monarchien im riesigen Südland für gewöhnlich sehr achteten. Palance Buckhannah war offenbar entschlossen, nicht nur die Umstände unbeachtet zu lassen, unter denen seine Gäste erschienen, sondern sich auch über die unverletzlichen Traditionen von Jahrhunderten hinwegzusetzen.

»Er muss verrückt sein - völlig verrückt!« brauste Menion auf.

»Wozu macht er das? Wir werden von einer Invasionsarmee belagert, und er amüsiert sich mit einer Truppenparade!«

»Menion, überlegt Euch, was Ihr zu ihm sagt. Wir müssen Geduld haben, wenn wir Balinor von Nutzen sein wollen.« Shirl griff nach seiner Schulter und lächelte warnend. »Vergesst auch nicht, dass er mich liebt, so irregeleitet er auch sein mag. Er ist ein guter Mensch gewesen, und Balmors Bruder bleibt er.«

Menion sah trotz seiner Ungeduld und Unbeherrschtheit ein, dass sie recht hatte. Es war nichts gewonnen, wenn er zeigte, dass er sich über das unsinnige Gepränge ärgerte; vielmehr war er gut beraten, sich den Launen des Prinzen zu fügen, bis Balinor gefunden und befreit war. Er lehnte sich zurück und blickte mit erzwungener Ruhe auf die Soldaten zu beiden Seiten der Zufahrt. Die Trompetenstöße schienen von allen Seiten zu ertönen, und im Vorhof des Palastes hatten Berittene Aufstellung genommen. Die Kutsche kam zum Stillstand, und an der Tür erschien die große Gestalt des neuen Herrschers von Callahorn. Sein breites Gesicht war von einem nervösen, freudigen Lächeln erhellt.

»Shirl - Shirl, ich dachte schon, ich sehe dich nie wieder!« Er streckte die Arme aus, half ihr aus der Kutsche und drückte sie für einen Augenblick an sich, bevor er zurücktrat. »Ich ... ich glaubte, ich hätte dick für immer verloren.«

Menion Leah stieg langsam aus und lächelte schwach, als Palance sich ihm zuwandte.

»Prinz von Leah, Ihr seid wahrlich willkommen in meinem Reich«, sagte Palance und griff nach seiner Hand. »Ihr habt mir ... einen großen Dienst geleistet. Alles, was ich besitze, gehört auch Euch ... alles. Wir werden Freunde sein, Ihr und ich. Enge Freunde. Es ist ... so lange her, seit ...« Er verstummte plötzlich und starrte Menion an, offenbar in Gedanken versunken. Seine Worte klangen unnatürlich und nervös, so, als wisse er selbst nicht immer genau, was er sagte. Wenn er nicht schon völlig dem Wahnsinn verfallen ist, dachte Menion, muss er zumindest schwer krank sein.

»Ich freue mich sehr, in Tyrsis zu sein«, gab er zurück, »wenn ich mir auch wünsche, dass die Umstände für alle Beteiligten angenehmer sein möchten.«