»Ihr meint natürlich meinen Bruder«, fuhr ihn Palance an, dessen Gesicht sich rötete. Menion war verblüfft.
»Palance, er meint die Invasion der Nordland-Armee, die Verwüstung von Kern«, warf Shirl schnell ein.
»Ja ... Kern ...« Seine Stimme erstarb, und er schaute sich besorgt um, als vermisse er jemanden. Menion folgte seinem Beispiel und registrierte, dass Stenmin nicht zur Stelle war. Nach Shirls und Senpres Worten war der Prinz stets in Begleitung seines Beraters. Menion wechselte mit Shirl einen Blick.
»Ist etwas nicht in Ordnung, My Lord?« Menion gebrauchte die förmliche Anrede, um die Aufmerksamkeit seines Gegenübers zu erregen.
»Ihr könnt mir ... und diesem Reich helfen, Menion Leah«, sagte Palance sofort. »Mein Bruder möchte sich an meiner Stelle zum König aufschwingen. Er möchte mich töten lassen. Mein Berater Stenmin hat mich davor bewahrt aber es gibt noch andere Feinde ... überall Feinde! Wir beide müssen Freunde sein. Wir müssen zusammenstehen gegen jene, die mir meinen Thron abjagen wollen - die Böses gegen Shirl im Schilde führen. Mit Stenmin kann ich nicht ... reden wie mit einem Freund. Aber mit Euch könnte ich es.« Ersah Menion in beinahe kindlicher Erwartung an. Ein Gefühl starken Mitleids für diesen Sohn Ruhl Buckhannahs durchpulste den Hochländer, und er wünschte sich, für den Unglücklichen etwas tun zu können. Er lächelte traurig und nickte.
»Ich wusste, dass Ihr zu mir steht!« rief Palance und lachte freudig. »Wir sind beide königlichen Geblüts, und das ... verbindet uns. Wir werden uns gut verstehen, Menion. Aber nun müsst Ihr Euch ausruhen.«
Plötzlich schien ihm einzufallen, dass seine Palastgarde noch immer stramme Haltung einnahm und geduldig darauf wartete, entlassen zu werden. Mit einer ruckartigen Handbewegung bedeutete der neue Herrscher Callahorns dem Kommandeur der Garde, dass er die Soldaten wieder zu ihren gewöhnlichen Pflichten einsetzen konnte. Dann betrat er mit Shirl und Menion das Gebäude, wo eine Anzahl von Dienern schon wartete, um die Gäste zu ihren Zimmern zu führen. Er blieb stehen, sah seine Besucher an und beugte sich vertraulich vor.
»Mein Bruder ist in den Verliesen unter uns eingesperrt. Ihr braucht keine Angst zu haben.« Er sah sie bedeutungsvoll an, bevor er einen Blick auf die Dienerschaft warf. »Er hat überall Freunde, wisst Ihr.«
Menion und Shirl nickten, weil Menion es von ihnen erwartete.
»Dann wird er also nicht aus den Verliesen entkommen können?« fragte Menion unschuldig.
»Er hat es gestern nacht versucht ... zusammen mit seinen Freunden.« Palance lächelte zufrieden. »Aber wir haben sie ertappt und in die Falle gelockt. Sie werden die Verliese nicht mehr verlassen. Stenmin ist jetzt dort ... Ihr müsst ihn kennen lernen ...« Wieder richtete er sich unentschlossen auf, sah zu den Dienern hinüber und winkte einige heran. Er befahl ihnen, seine Freunde zu ihren Gemächern zu führen, damit sie ein Bad nehmen und sich umkleiden konnten, bevor sie mit ihm frühstückten. Die Sonne stand erst eine Stunde am Himmel, und die Flüchtlinge aus Kern hatten seit dem vergangenen Abend nichts gegessen. Menions nur provisorisch verbundene Wunden mussten behandelt werden, und der Hausarzt stand schon bereit, die Verbände zu wechseln. Menion brauchte auch Schlaf, aber zur Ruhe würde er erst später kommen. Die kleine Gruppe ging durch einen langen Korridor, als Shirl plötzlich ihren Namen rufen hörte. Sie drehte sich um. Der neue Herrscher von Callahorn kam ihnen nachgeeilt, blieb vor Shirl stehen, zögerte und umarmte sie dann. Menion hielt das Gesicht abgewendet, hörte aber deutlich mit, was gesprochen wurde.
»Du darfst mich nie wieder verlassen, Shirl.« Es war ein Befehl, keine Bitte, auch wenn die Stimme leise klang. »Du musst für immer in Tyrsis bleiben als meine Frau.«
Es blieb einen langen Augenblick still.
»Palance, ich glaube, wir -« begann Shirl stockend.
»Nein, sag nichts. Keine Diskussion- nicht jetzt«, unterbrach Palance sie schnell. »Später ... wenn wir allein sind, wenn du ausgeruht bist ... dann ist Zeit dafür. Du weißt, dass ich dich liebe ... immer geliebt habe. Und du hast mich auch geliebt, ich weiß es.«
Wieder blieb es lange Augenblicke still, dann ging Shirl mit schnellen Schritten an Menion vorbei und zwang die Diener, voranzustürzen, um ihr den Weg zu ihren Räumen zu zeigen. Der Hochländer holte Shirl ein und wagte nicht, nach ihrer Hand zu greifen, solange ihr Gastgeber im Korridor stand und ihnen nachblickte. Shirl hielt den Kopf gesenkt, so dass die langen, roten Haare ihr Gesicht halb verhüllten. Sie blieben beide stumm, als die Bediensteten sie durch den breiten Korridor zum Westflügel des alten Palastes führten. Dort trennten sie sich kurze Zeit, damit der Arzt Menions Wunden behandeln und frisch verbinden konnte. Danach lag auf dem großen Himmelbett frische Kleidung, und das heiße Bad wartete, aber Menion wollte von beidem nichts wissen. Er verließ hastig sein Zimmer, klopfte leise an die Nebentür, öffnete sie und trat ein. Shirl erhob sich von ihrem Bett, als er die schwere Holztür schloss, dann lief sie auf ihn zu und schlang die Arme um ihn.
Sie klammerten sich lange Zeit aneinander, spürten den warmen Lebensstrom in ihren Körpern, lauschten auf ihren Herzschlag. Menion streichelte sanft das dunkelrote Haar und presste Shirl an seine Brust. Sie verließ sich auf ihn; dieser Gedanke erleichterte ihn. Wenn ihre eigene Stärke, ihr Mut versagte, hielt sie sich an ihn. Menion begriff, dass er sie mit verzweifelter Kraft liebte.
Es war höchst seltsam, dass dies jetzt geschah, da ihre Welt ringsum zu zerfallen schien und der Tod in den Schatten lauerte.
Menions turbulentes Leben während der vergangenen Wochen hatte ihn von einem bedrohlichen Kampf in den anderen gerissen, jedes mal auf Leben und Tod, vom Standpunkt sterblicher Wesen aus offenkundig sinnlos; das Ganze fand seine Logik allein in der seltsamen Legende vom rätselhaften Schwert von Shannara und dem Dämonen-Lord. In diesen schrecklichen Tagen seit Culhaven hatte ihn das Leben umtobt wie eine Schlacht, und er war richtungslos umhergewirbelt worden. Seine tiefe Freundschaft und Liebe zu Shea und seine nun unterbrochene Gemeinschaft mit den Mitgliedern der Gruppe, die nach Paranor und noch weiter gezogen war, hatten ein schwaches Gefühl der Stabilität hervorgerufen, einen Fingerzeig, dass irgend etwas von Bestand sein würde, während der Rest der Welt davon gerissen wurde. Dann hatte er unerwartet Shirl Ravenlock gefunden, und der überstürzte Ablauf der Dinge, die gemeinsam erlebten Gefahren, verbunden mit einer voraussehbaren Verflechtung persönlicher Bedürfnisse, hatten sie untrennbar miteinander verbunden. Menion schloss die Augen und presste Shirl fester an sich.
Palance war wenigstens in einer Hinsicht von Nutzen gewesen - er hatte ihnen verraten, dass Balinor und vermutlich auch die anderen in den Verliesen irgendwo unter dem Palast eingesperrt waren. Offenkundig war bereits ein Ausbruchsversuch gescheitert. Menion war entschlossen, keinen Fehler zu begehen. Er besprach sich leise mit Shirl, bemüht, zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Wenn Palance darauf bestand, Shirl in seiner Nähe zu halten, um ihr seinen Schutz angedeihen zu lassen, würde sie in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt sein. Eine größere Bedrohung war jedoch die Besessenheit des Prinzen, sie zu heiraten, in dem falschen Glauben, sie liebe ihn. Palance Buckhannah schien am Rand des völligen Wahnsinns zu stehen. Er mochte jeden Augenblick das seelische Gleichgewicht verlieren, und wenn das geschah, solange Balinor sein Gefangener war ... dann ... Menion unterbrach seine Gedankengänge; er wusste, dass die Zeit keine Spekulationen darüber zuließ, was morgen geschehen mochte. Es würde nicht mehr von Bedeutung sein, denn die Inva sionsarmee aus dem Norden würde dann vor den Toren stehen. Balinor musste deshalb auf der Stelle befreit werden. Menion hatte einen starken Verbündeten in Janus Senpre, aber der Palast wurde bewacht von den schwarzuniformierten Soldaten, die nur dem Herrscher dienten, und dieser schien im Augenblick allein Palance Buckhannah zu sein. Niemand wusste, was aus dem alten König geworden war; seit Wochen hatte ihn keiner mehr gesehen. Offenkundig konnte er sich von seinem Krankenbett nicht erheben, aber dafür hatte man nur das Wort seines Sohnes - und sein Sohn verließ sich auf die Behauptung des sonderbaren Mystikers Stenmin.