Shirl hatte einmal erwähnt, sie habe Palance nie länger als einige Augenblicke ohne seinen Berater gesehen, aber bei der Ankunft aus Kern war Stenmin nirgends zu entdecken gewesen. Das musste als merkwürdig gelten, da doch praktisch jeder wusste, dass Stenmin die eigentliche Macht ausübte. Shirls Vater hatte in der Ratshalle von Kern erklärt, der bösartige Mystiker scheine einen gefährlichen Einfluss auf den jüngeren Sohn Ruhl Buckhannahs auszuüben. Wenn Menion nur dahinterkommen konnte, worauf diese Macht über Palance beruhte - er war überzeugt davon, dass der Mystiker der Schlüssel zum sonderbaren Verhalten des Prinzen war. Aber es blieb zuwenig Zeit. Menion würde mit dem Wenigen, das er wusste, auskommen müssen, um an sein Ziel zu gelangen.
Als er Shirl verließ und in sein eigenes Zimmer zurückkehrte, um zu baden und sich umzuziehen, entwickelte er in seinem Inneren bereits einen Plan zur Befreiung Balinors. Er beschäftigte sich mit den Einzelheiten auch dann noch, als er gebadet hatte. Es wurde an die Tür geklopft. Er schlüpfte in einen Hausrock, der bereitgelegt war, ging durch das Zimmer und öffnete die Tür. Einer der Diener brachte ihm das Schwert von Leah. Er bedankte sich lächelnd und ließ die kostbare Waffe aufs Bett fallen, während er sich entsann, dass er das Schwert während der Wagenfahrt neben sich auf den Sitz gelegt und es dann vergessen hatte. Seine Gedanken wichen ein wenig ab, während er sich anzog, und er dachte stolz an die Kämpfe, die das Schwert schon erlebt hatte. Er hatte so viel durchgemacht, seitdem Shea bei ihm aufgetaucht war - bei den meisten Menschen hätte es ausgereicht für ein ganzes Leben.
Er starrte vor sich hin und dachte traurig an seinen vermissten Freund. Zum tausendstenmal fragte er sich, ob der kleine Talbewohner noch am Leben sein mochte. Eigentlich gehörst du nicht nach Tyrsis, sagte er sich bitter. Shea hatte sich auf ihn verlassen, aber es hatte den Anschein, als sei ihm das übel bekommen, denn Menion hatte sich immer wieder durch die Wünsche Allanons beeinflussen lassen, obschon sein Gewissen ihm bei jeder Gelegenheit gesagt hatte, er schade seinem Begleiter, wenn er sich dem Rat des Druiden beuge. Der Gedanke, dass er seine klare Verantwortung für den Talbewohner hatte zurücktreten lassen, ärgerte ihn zutiefst. Es war nicht zu leugnen, dass er die Entscheidungen, die ihn zuletzt nach Tyrsis geführt hatten, allein getroffen hatte. Es gab eben außer Shea auch noch andere, die seiner Hilfe dringend bedurften ...
Er ging mit gemessenen Schritten durch das große Zimmer und ließ sich auf das weiche Bett fallen. Seine ausgestreckte Hand berührte das kühle Metall seines Schwerts. Er betastete es versonnen, als er sich zurücklegte und über die Probleme nachdachte, die es zu bewältigen galt. Shirls angstvolles Gesicht stand vor seinem inneren Auge. Sie war ihm von allerhöchster Wichtigkeit; er konnte sie jetzt nicht verlassen, um die Suche nach Shea wiederaufzunehmen, gleichgültig, was die Folgen sein mochten. Eine bittere Wahl war das, wenn es eine solche überhaupt gab, denn seine Pflicht ging über das Leben dieser beiden Menschen hinaus; sie galt Balinor und seinen gefangenen Kameraden und zuletzt auch den Menschen von ganz Callahorn. Wenn Shea noch lebte, war es Aufgabe von Allanon und Flick, ihn zu finden. Soviel hing von jedem einzelnen von ihnen ab, dachte er abwesend, während sich der Schlaf schon auf ihn hernieder senkte. Sie konnten nur darum beten, dass alles gut gehen möge ... beten und abwarten. Er schlief ein.
Wenig später gab es ihm einen Ruck, und er war schlagartig wach. Es mochte ein kaum wahrnehmbares Geräusch gewesen sein, vielleicht lag es auch an einem sechsten Sinn in ihm, jedenfalls wurde er aus einem Schlaf gerissen, der mit seinem Tod geendet hätte. Er lag regungslos auf dem großen Bett und lauschte. Aus der gegenüberliegenden Wand war ein schwaches Scharren zu vernehmen. Durch die Augenschlitze sah er, wie sich ein Gobelin bewegte. Ein Teil des massiven Mauerwerks dahinter schien sich nach vorn zu schieben, dann tauchte eine gebückte Gestalt im roten Umhang auf.
Menion zwang sich, ruhig weiterzuatmen, obwohl sein Herz heftig schlug und es ihn drängte, aufzuspringen und den rätselhaften Eindringling zu packen. Die Gestalt im Umhang huschte lautlos durch das Zimmer. Das fremde Gesicht drehte sich hastig hin und her und richtete sich dann wieder auf die im Bett liegende Gestalt des Hochländers. Der Eindringling war nur noch einen Meter vom Bett entfernt, als eine seiner schmalen Hände unter dem scharlachroten Umhang verschwand und mit einem langen, spitzen Dolch wieder auftauchte.
Menions ausgestreckte Hand lag auf dem Schwert, aber er bewegte sich noch immer nicht. Er wartete noch einen Augenblick länger, bis der Angreifer das Bett erreicht hatte, den Dolch in Hüfthöhe. Dann stieß Menion zu wie ein Raubvogel. Der schlanke Körper schnellte hoch und warf sich auf den Eindringling. Das noch in der Lederscheide steckende Schwert traf mit der Breitseite den Mann im Gesicht, dass es klatschte. Der Fremde taumelte zurück und hob abwehrend den Dolch. Das Schwert in der Scheide schlug ein zweites Mal zu, und der Dolch flog davon. Menion riss die rote Gestalt zu Boden und nagelte sie auf dem Teppich fest, während eine Hand sich um seine Kehle schloss.
»Rede, feiger Mörder!« knurrte er drohend.
»Nein, nein, wartet, Ihr habt Euch geirrt ... ich bin kein Feind ... bitte, ich kann nicht atmen ...« Ein Gurgeln drang aus der Kehle des Eindringlings, als Menions Zugriff sich noch verstärkte. Menion konnte sich nicht erinnern, den Mann schon einmal gesehen zu haben. Das Gesicht war scharf geschnitten und spitz, umrahmt von einem kleinen, schwarzen Bart. Der Hochländer sah die hasserfüllten Augen, die zusammengebissenen Zähne, und er wusste, dass er sich nicht getäuscht haben konnte. Er riss den Eindringling hoch, ohne seinen Hals loszulassen.
»Dann erklär mir, wo mein Fehler liegen soll. Du hast eine Minute, bevor ich dir die Zunge abschneide und dich den Wachen übergebe.« Er ließ die Kehle des Mannes los und packte ihn an der Brust, während er mit der anderen Hand den Dolch aufhob.
»Das ist ein Geschenk, Prinz von Leah ... ein Geschenk vom König.« Die Stimme schwankte ein wenig. »Der König wollte seine Dankbarkeit bezeugen, und ich ... ich kam durch eine andere Tür herein, um Euch nicht im Schlaf zu stören.« Er machte eine Pause, als warte er auf irgend etwas, während er Menion ins Gesicht starrte. Er wartete nicht darauf, dass seine Geschichte geglaubt wurde - es war etwas anderes, ganz so, als rechne er damit, dass Menion noch mehr zu sehen bekommen werde ...
Menion Leah riss den Mann zu sich heran.
»Das ist wohl das Armseligste, was ich je gehört habe. Wer bist du, Halunke?«
Die Augen des anderen schienen vor Hass zu lodern.
»Ich bin Stenmin, der Berater des Königs.« Er schien sich wieder gefasst zu haben. »Ich belüge Euch nicht. Der Dolch ist ein Geschenk von Palänce Buckhannah, das ich Euch überbringen soll. Ich will Euch nichts Böses. Wenn Ihr mir nicht glaubt, geht zum König und fragt ihn.«
Es klang so zuversichtlich, dass Menion davon überzeugt war, Palänce würde bestätigen, was sein Berater behauptet hatte, ob es zutraf oder nicht. Menion hatte den gefährlichsten Mann in ganz Callahorn in seiner Gewalt, den bösartigen Zauberer, der zur Macht hinter dem Thron geworden war, den einen Mann, den er beseitigen musste, wenn Balinor gerettet werden sollte. Weshalb Stenmin es für angebracht gehalten hatte, ihn zu überfallen, obwohl sie einander vorher nie begegnet waren, wusste Menion nicht, aber wenn er ihn jetzt wieder freiließ oder auch nur vor Palance brachte, um ihn anzuklagen, gab er, Menion, die Initiative wieder aus der Hand und gefährdete erneut sein eigenes Leben. Er schleuderte Stenmin in einen Sessel und befahl ihm, sich nicht zu rühren. Stenmin blieb ruhig sitzen, und seine Augen glitten hin und her, während er sich nervös den kleinen Spitzbart strich. Menion betrachtete ihn und dachte über die Möglichkeiten nach, die ihm zur Verfügung standen. Er brauchte nur kurze Zeit, um sich zu entschließen. Er durfte nicht länger zuwarten, bis sich der richtige Augenblick, in dem er seine Freunde befreien konnte, von selbst einstellte; die Entscheidung drängte sich ihm auf.