»Er ... er ist im Nordflügel ... im Turm«, stieß er halblaut hervor.
»Wenn ihm etwas geschehen ist, Stenmin ...«
Balinor wandte sich ruckartig ab, und Stenmin wich zurück an eine Wand. Er fuhr mit der Hand nervös über seinen schwarzen Bart. Menion beobachtete ihn beinahe mitleidig, aber dann löste sich in seinem Gehirn schlagartig etwas aus. Ein Bild flammte auf - die Erinnerung an eine Szene vor Tagen an den Ufern des Mermidon nördlich von Kern, als er auf einer kleinen Anhöhe gelegen hatte, den Blick auf den windumtosten Fluss gerichtet. Dieselbe Geste - das Streichen über einen kleinen Spitzbart! Jetzt wusste er genau, was Stenmin im Schild führte. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut, und er trat vor, Balinor beiseite schiebend, als sei dieser gar nicht vorhanden.
»Ihr seid der Mann am Ufer gewesen - der Entführer!« fuhr er Stenmin an. »Ihr habt versucht, mich zu töten, weil Ihr geglaubt habt, ich erkenne Euch als den Mann wieder, der Shirl entführt hat, der sie den Nordländern übergeben hat! Ihr Verräter! Ihr wolltet uns alle verraten und die Stadt dem Dämonen-Lord übergeben!«
Ohne auf die erregten Stimmen seiner Freunde zu hören, stürzte Menion sich auf den völlig aus der Fassung geratenen Mystiker, der sich ihm aber entwinden konnte und zur Kellertreppe sprang. Menion setzte ihm nach, das schimmernde Schwert seines Vaters erhoben. Auf halber Treppe holte er Stenmin ein, der gellend aufschrie, als Menion ihn herumriss. Aber noch kam das Ende nicht, denn als Menion mit dem Schwert ausholte und Stenmin an die Steinmauer presste, wurde plötzlich die massive Kellertür aufgestoßen. Sie krachte mit ohrenbetäubendem Lärm an die Wand. Unter dem Torbogen stand die breitschultrige Gestalt Palance Buckhannahs.
29
Einen Augenblick lang erstarrte alles. Selbst der entsetzte Stenmin war an der Mauer zusammengesunken und starrte die statuenhafte Gestalt über der alten Steintreppe leer an. Das zerquälte Gesicht des Prinzen hatte jede Farbe verloren, und der Ausdruck in seinen Augen war ein seltsames Gemisch aus Zorn und Verwirrung. Menion Leah erwiderte den forschenden Blick ungerührt und ließ das Schwert sinken, als sein Hass verrauchte. Er und seine Freunde mochten aber alle des Todes sein, wenn er nicht schnell handelte. Er riss deshalb Stenmin mit einer heftigen Bewegung vom Boden hoch und stieß ihn verächtlich dem Prinzen entgegen.
»Hier ist Euer Verräter, Palance - der wahre Feind Callahorns. Das ist der Mann, der Shirl Ravenlock den Nordländern übergeben hat. Das ist der Mann, der Tyrsis dem Dämonen-Lord ausliefern will ...«
»Mylord, Ihr kommt gerade zur rechten Zeit.« Der Mystiker hatte sich schnell gefasst und fiel Menion ins Wort, bevor dieser noch größeres Unheil anrichten konnte. Er raffte sich schnell auf und stürzte die Stufen hinauf, um sich dem Prinzen zu Füßen zu werfen und zu den anderen hinunterzuzeigen. »Ich habe sie bei der Flucht ertappt - ich wollte Euch eben warnen! Der Hochländer ist ein Freund Balinors - er ist hergekommen, um Euch zu töten!« Die Worte strömten voller Hass aus dem Mund Stenmins, während er nach dem Rock seines Wohltäters fasste und sich langsam hochzog. »Sie hätten mich ermordet - und danach Euch, Mylord. Seht Ihr nicht, was hier vorgeht?«
Menion kämpfte den Drang nieder, die Stufen hinaufzustürmen und dem Mystiker die Lügnerzunge abzuschneiden. Er zwang sich äußerlich zur Ruhe und starrte Palance Buckhannah ins Gesicht.
»Ihr seid von diesem Mann verraten worden, Palance«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort. »Er hat Euer Herz und Euren Verstand vergiftet. Er hat Euch des Willens beraubt, für Euch selbst zu denken. Ihr bedeutet ihm nichts, das ganze Land bedeutet ihm nichts. Er hat es an den Feind verkauft, der schon Kern auf dem Gewissen hat.« Stenmin wollte wutentbrannt aufbrüllen, aber Menion ging unbeirrt darüber hinweg. »Ihr habt gesagt, wir würden Freunde sein, und Freunde müssen einander Vertrauen schenken. Lasst Euch jetzt nicht täuschen, sonst ist Euer Reich endgültig verloren.«
Balinor und seine Genossen, die immer noch unten an der Treppe standen, schauten stumm zu und wagten nicht einzugreifen, aus Angst, den seltsamen Zauber zu zerstören, den Menion Leah webte, denn Palance hörte immer noch zu, während sein umwölkter Geist sich mühte, die Mauer der Verwirrung ringsum niederzureißen. Langsam trat er vor, schloss die Tür hinter sich und ging an Stenmin vorbei, als existiere dieser nicht. Sein Berater zögerte unsicher und warf einen verstohlenen Blick auf die Kellertür, als erwäge er einen Fluchtversuch. Noch war er aber nicht bereit, seine Niederlage einzugestehen. Er fuhr herum, packte Palance am Arm und beugte sich zu seinem Ohr.
»Seid Ihr verrückt? Seid Ihr so wahnsinnig, wie manche behaupten, mein König?« zischte er. »Wollt Ihr jetzt alles wegwerfen und es Eurem Bruder überlassen? Soll er König sein oder Ihr? Das ist alles gelogen. Der Prinz von Leah ist ein Freund Allanons.«
Palance wandte sich ihm ein wenig zu, seine Augen weiteten sich.
»Ja, von Allanon!« Stenmin wusste, dass er einen Punkt, auf den der Prinz reagierte, getroffen hatte, und zeigte sich entschlossen, seinen Vorteil zu nützen. »Wer, glaubt Ihr, hat Eure Verlobte aus ihrem Haus in Kern entführt? Dieser Mann, der von Freundschaft spricht, gehörte der Verschwörung an das Ganze war eine List, um in den Palast zu gelangen und Euch zu ermorden!«
Höndel machte einen Schritt auf die Treppe zu, aber Balinor hielt ihn zurück. Menion blieb stehen, wo er war; er wusste, dass eine unbedachte Bewegung für Palance nur die Bestätigung sein konnte, dass Stenmin die Wahrheit sagte. Er richtete einen vernichtenden Blick auf den verschlagenen Mystiker, wandte sich Palance zu und schüttelte den Kopf.
»Er ist ein Verräter. Er ist eine Kreatur des Dämonen-Lords.«
Palance stieg ein paar Stufen hinunter, warf einen kurzen Blick auf Menion und starrte dann unverwandt seinen Bruder an, der ruhig stehen blieb und wartete. Ein schwaches Lächeln huschte über das Gesicht von Palance, als er auf halber Treppe anhielt und sagte:
»Was meinst du, Bruder? Bin ich wirklich ... verrückt? Wenn ich es nicht bin, dann ... nun, dann müssen es alle anderen sein, und ich allein bin ... normal. Sag etwas, Balinor. Wir sollten uns nun wirklich unterhalten ... Bevor ... Ich wollte irgend etwas sagen ...« Aber der Satz blieb unvollendet. Palance richtete sich auf und schaute wieder zu Stenmin hinauf, der geduckt wie ein in die Enge getriebenes Tier zum Sprung anzusetzen schien.
»Ihr seid lächerlich, Stenmin. Steht auf!« Der scharfe Befehl tönte durch die Stille, und die zusammengekauerte Gestalt des Mystikers richtete sich auf. »Sagt mir, was ich tun soll!« herrschte Palance ihn an. »Soll ich alle töten lassen - wird mich das schützen?«
Stenmin stand blitzschnell bei ihm, die dunklen Augen kalt vor Wut.
»Ruft Eure Garde, Herr! Lasst diese Mörder auf der Stelle niedermachen!«
Palance schien plötzlich zu schwanken. Seine breiten Schultern sanken herab, sein Blick blieb am Mauerwerk haften, als studiere er es mit großer Gründlichkeit. Menion spürte, dass der Prinz von Callahorn wieder der Wirklichkeit entglitt und zurückfiel in die umwölkte Welt des Wahnsinns. Stenmin erkannte es ebenfalls, und ein grimmiges Lächeln huschte über sein dunkles Gesicht, während die Hand den Spitzbart strich. Plötzlich begann Palance wieder zu sprechen.
»Nein, keine Soldaten ... kein Töten. Ein König muss überlegt handeln ... Balinor ist mein Bruder, auch wenn er an meiner Stelle König sein will. Er und ich müssen uns besprechen ... es darf ihm nichts geschehen ... nichts geschehen.« Seine Stimme wurde leiser, und er lächelte Menion unvermittelt an. »Ihr habt mir Shirl zurückgebracht ... ich glaubte schon, ich hätte sie verloren, wisst Ihr. Warum . . . solltet Ihr das tun . . . wenn Ihr zu meinen Feinden gehört?«
Stenmin schrie vor Wut auf und griff vergeblich nach dem Rock des Prinzen. Palance Buckhannah schien ihn nicht zu bemerken.
»Es ist schwer für mich ... klar zu denken, Balinor«, fuhr Palance leise fort und schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Klarheit mehr ... ich bin nicht einmal zornig auf dich, weil du König sein willst. Ich habe immer ... König sein wollen. Du weißt es. Aber ich brauche ... Freunde ... einen Menschen, mit dem ich reden kann ...« Er blickte Stenmin an. Seine Augen wirkten aber leer und ausdruckslos. Stenmin entdeckte in ihnen etwas, das ihn veranlasste, den Prinzen loszulassen und sich ängstlich an die Wand zu pressen. Nur Menion stand nahe genug, um zu erkennen, was geschehen war. Worin auch immer die Macht, die Stenmin über Palance ausgeübt hatte, bestanden haben mochte, sie war gebrochen. Die schon verwirrten Gedankengänge des Prinzen waren endgültig zerstört, und Stenmin war für ihn von nun an nicht mehr als ein Gesicht in einem Meer von verschwimmenden Wesen, die die Alptraumwelt des wahnsinnigen Prinzen von Callahorn heimsuchten.