»Palance, hört mich an!« sagte Menion, nur für einen Augenblick durch den Wall der Dunkelheit nach dem Menschen greifend. Die breite Gestalt drehte sich ein wenig. »Ruft Shirl herunter! Ruft Shirl, und sie wird Euch helfen!«
Der Prinz zögerte einen Augenblick, als versuche er sich zu erinnern, dann huschte ein Lächeln über sein eingefallenes Gesicht, und tiefe Ruhe schien sich über seinen ganzen Körper auszubreiten. Er erinnerte sich an Shirls sanfte Stimme, ihre stille Art, ihre zerbrechliche Schönheit - Reminiszenzen, die Frieden und Seelenruhe zurückriefen, Augenblicke tiefer Zuneigung, die er sonst bei keinem anderen Menschen gefunden hatte. Wenn er nur für eine kurze Zeit bei ihr sein konnte ...
»Shit!«, sagte er leise und wandte sich mit ausgestreckter Hand der Kellertür zu. Als er an Stenmin vorbeiging, schien der zusammengekauerte Mystiker plötzlich zum Berserker zu werden. Kreischend vor Wut und Enttäuschung stürzte er sich auf den Prinzen und wühlte an seiner Brust. Menion Leah reagierte sofort und lief die Treppe hinauf zu den miteinander ringenden Männern. Aber er war noch einige Stufen entfernt, als Stenmins schmale Hand mit einem langen Dolch aus seinem Gewand hoch zuckte. Die Waffe schwebte einen schrecklichen Augenblick lang über den Männern, während Balinor vor Entsetzen aufschrie. Dann sauste sie hinunter. Palance Buckhannah schnellte zu voller Höhe empor, den Dolch bis zum Heft in der breiten Brust, und sein junges Gesicht wurde weiß wie ein Leichentuch.
»Ich gebe dir deinen Bruder zurück, du Narr!« schrie Stenmin gellend und stieß die schlaffe Gestalt die Treppe hinunter.
Der getroffene Prinz stürzte schwer in Menions ausgestreckte Arme und ließ ihn zurücktaumeln an die Wand, so dass er für Augenblicke das Gleichgewicht verlor und dem verhassten Feind nicht nachsetzen konnte. Stenmin hatte sich bereits zur Flucht gewandt und zerrte verzweifelt an der massiven Kellertür. Balinor hetzte die Stufen hinauf, bemüht, die Flucht des Mystikers zu verhindern. Die Elfen-Brüder folgten ihm und schrieen nach den Wachen. Die scharlachrote Gestalt hatte die Tür schon einen Spalt geöffnet und wollte eben hinausschlüpfen, als Höndel, der immer noch ganz unten stand, einen am Boden liegenden Streitkolben packte, der von einer der Wachen stammte, und ihn dem Flüchtenden nachschleuderte. Er traf die Schulter des Mystikers mit knochenzerschmetternder Wucht, und ein qualvoller Schrei hallte von den feuchten Wänden wider. Selbst das genügte aber nicht, um den Mystiker aufzuhalten, und einen Augenblick später war er verschwunden. Draußen ertönte sein schriller Schrei, die Gefangenen hätten den König ermordet.
Balinor warf einen schnellen Blick auf die stille Gestalt in den starken Armen Menion Leahs, dann rannte er zur offenen Kellertür. Zwei Palastwachen in schwarzen Uniformen tauchten plötzlich mit gezückten Schwertern auf. Sie hätten ebenso gut Puppen sein können, so wenig ließ sich Balinor von ihnen schrecken. Er rannte sie einfach um und hob im Laufen eines der zu Boden gefallenen Schwerter auf. Durin und Dayel waren nur Schritte hinter ihm, Menion kniete allein auf der Treppe, sah ihnen nach und hielt den Körper des selbsternannten Königs von Callahorn in den Armen. Höndel stieg die Stufen hinauf, blieb bei ihm stehen und schüttelte traurig den grauen Kopf. Der Prinz lebte noch, aber sein Atem war flach und rasselnd, und die Lider zuckten krampfhaft. Der Zwerg streckte grimmig die Hand aus und zog langsam die tödliche Klinge aus der Brust des Prinzen heraus, bevor er den Dolch angewidert von sich warf. Höndel half Menion, den Verwundeten hochzuheben, und die Augen des Prinzen öffneten sich plötzlich. Palance murmelte etwas und versank wieder in Bewusstlosigkeit.
»Er verlangt nach Shirl«, flüsterte Menion mit Tränen in den Augen, während er Höndel ansah. »Er liebt sie immer noch. Er liebt sie immer noch.«
Im Korridor, der zum Keller führte, setzten Balinor und die Elfen-Brüder dem fliehenden Stenmin nach. Es herrschte allgemeine Verwirrung, als Angehörige der Garde, der Dienerschaft und Besucher in dem von Panik erfassten Palast durcheinander stürmten. Schreckensschreie hallten von den uralten Wänden wider, beklagten den Tod des Königs und warnten vor Mördern, die entschlossen seien, alles niederzumachen. Am Palasttor war ebenfalls Kampfeslärm, der das Chaos verstärkte, zu vernehmen. Balinor und seine beiden Begleiter zwängten sich durch Menschentrauben, die beim Anblick gezogener Waffen in Hysterie verfielen. Ein paar Soldaten versuchten, sie aufzuhalten, aber Balinor stieß die Bedauernswerten einfach beiseite und verfolgte die rotgekleidete Gestalt, die vor ihnen das Weite suchte. Stenmin war immer noch in Sichtweite, als die drei Verfolger die große Halle erreichten, aber er hatte sich durch das Gedränge gekämpft und vergrößerte nun seinen Vorsprung. Wutentbrannt hetzte ihm Balinor nach, stieß beiseite, was ihm in den Weg kam.
Dann erbebten die Palasttore plötzlich unter dem Ansturm von Dutzenden kämpfender Männer und barsten unmittelbar vor Balinor und seinen beiden Freunden auseinander. Die Verwirrung erreichte ihren Höhepunkt, als ein großer Haufen fechtender Gestalten in die Halle eindrang, nach Balinor brüllte und die Schwerter schwang. Einen Augenblick lang wusste der Prinz nicht so recht, wer sie sein mochten, aber dann sah er das Leoparden-Abzeichen der Grenzlegion. Die wenigen Palastwachen, die noch vorhanden waren, flüchteten oder warfen die Waffen weg und wurden ergriffen. Die Legionäre erkannten Balinor und stürzten auf ihn zu, packten ihn und hoben ihn unter Jubelgeschrei auf die Schultern. Durin und Dayel wurden von ihm getrennt. Die triumphierenden Männer versperrten den Weg zu dem sich rasch entfernenden Stenmin. Balinor brüllte und wehrte sich verzweifelt, um sich frei zu machen, aber die Masse der Männer hinderte ihn daran, sich gegen die Flut zu stemmen, die plötzlich m Bewegung geriet und ihn zurück zum Keller schwemmte.
Die aufgebrachten Elfen durchstießen endlich die Menge und rasten dem Zauberer nach, der in einen anderen Korridor eingebogen war und vorübergehend ihren Blicken entschwand. Die schmalen Elfen waren jedoch schnellfüßig und verringerten den Vorsprung, den Stenmin hatte, rasch. Sie bogen um eine Ecke und bekamen ihn wieder zu Gesicht. Seine Miene war verzerrt vor Entsetzen, sein rechter Arm hing schlaff und gebrauchsunfähig herab. Durin beschimpfte sich stumm dafür, unterwegs nicht einen Bogen ergriffen zu haben. Der Fliehende blieb plötzlich stehen und versuchte vergeblich eine der Türen an der linken Flurseite aufzureißen. Der Riegel hielt trotz der verzweifelten Bemühungen des Mystikers, ihn zu sprengen, stand, so dass dieser herumfuhr und zur nächsten offenen Tür im Korridor raste. Durin und Dayel waren nur noch Meter von ihm entfernt, als es Stenmin gelang, diese Tür zu erreichen. Er verschwand dahinter, und sie fiel krachend zu. Die Elfen langten Augenblicke später an. Da die Tür von innen abgesperrt war, machten sie sich daran, den eisernen Riegel mit den Schwertern aufzubrechen. Es dauerte Minuten, bis ihnen das gelang. Als sie die Tür aufrissen und in den Raum stürzten, war er leer.
Menion Leah stand stumm vor den Toren des Palastes, während Balinor sich halblaut mit den Kommandeuren der Grenzlegion unterhielt. Shirl befand sich neben ihm, einen Arm unter den seinen geschoben, das junge Gesicht von Sorge umschattet. Menion sah auf sie hinunter und lächelte sie beruhigend an, dann presste er sie noch fester an sich. Jenseits der großen Außenmauer von Tyrsis warteten zwei Divisionen der wiederaufgestellten Grenzlegion auf den Befehl, der sie gegen die furchtbare Nordland-Armee in den Kampf schicken würde. Die gewaltige Invasions-Streitmacht hatte das Nordufer des Hochwasser führenden Mermidon erreicht und fasste bereits die Überquerung ms Auge. Wenn die Legion das Südufer auch nur einige Tage lang zu halten vermochte, würde den Elfen-Heeren vielleicht Zeit bleiben, sich zu sammeln und Tyrsis zu Hilfe zu kommen. Zeit, dachte Menion bitter - alles, was sie brauchten, war ein wenig Zeit. Bis jetzt war sie ihnen nicht gegönnt gewesen. Die Grenzlegion war, nachdem die Stadt gesichert worden war und Balinor den Befehl wieder übernommen hatte, so schnell wie möglich zusammengerufen worden, aber die vorrückenden Nordländer hatten den Mermidon, wie gesagt, bereits erreicht und trafen ihre Vorbereitungen für das Übersetzen.