Balinor war nun König von Callahorn. Anlass zum Feiern konnte das vorläufig nicht sein. Sein Bruder lag im Koma, stark geschwächt, dem Tode nah. Die besten Ärzte von Tyrsis hatten ihn gründlich untersucht, um der Ursache seiner Geistesverwirrung auf die Spur zu kommen, und waren schließlich zu der Ansicht gelangt, dass ihm über eine lange Zeit hinweg eine starke Droge eingeflößt worden sei, die seinen Widerstand brechen und ihn praktisch zu einer gehirnlosen Puppe machen sollte. Die Dosis war zuletzt so erhöht worden, dass Geist und Körper sie nicht mehr hatten ertragen können. Zuletzt war der Wahnsinn bei ihm Wirklichkeit geworden.
Balinor hatte sich die Schlussfolgerungen der Ärzte wortlos angehört. Eine Stunde vorher war sein Vater in einem entlegenen Raum im Nordturm des Palastes entdeckt worden. Der alte König war schon seit einigen Tagen tot, und die ärztliche Untersuchung hatte ergeben, dass er systematisch vergiftet worden war. Stenmm hatte als einziger Zugang zu dem Raum gehabt, wenn man von dem schon geistesverwirrten Prinzen Palance absah. So hatte der Tod Ruhl Buckhannahs mit Leichtigkeit geheimgehalten werden können. Wäre es dem Mystiker auch noch gelungen, Balinor zu töten, hätte es ihm nicht schwer fallen können, Palance zum öffnen der Stadttore zu überreden und den Heeren des Dämonen-Lords die Vernichtung von Tyrsis zu ermöglichen. Das war ihm schon einmal beinahe gelungen, und die Gelegenheit konnte sich wieder ergeben, nachdem Stenmin den Elfen-Brüdern hatte entkommen können und sich irgendwo in der Stadt verborgen hielt.
Die Zukunft des Südlands lag in einem sehr konkreten Sinne in den Händen Balinors. Die Bewohner von Tyrsis erwarteten von den Buckhannahs eine zuverlässige Regierung und starke Führung. Die Grenzlegion leistete als Streitmacht ihr Bestes, wenn Balinor sie befehligte. Nun war der riesenhafte Prinz der letzte seiner Familie und der Mann, zu dem alle aufblickten, damit er sie führe. Wenn ihm etwas zustieß, verlor die Legion ihren besten Kommandeur und das Herz ihrer Kampfkraft, die Stadt den letzten Buckhannah. Die wenigen, die wahrhaft begriffen, wie ernst die Lage war, sahen ein, dass Tyrsis gegen die vorrückende Nordland-Armee gehalten werden musste, sollte das Südland nicht verloren gehen und ein Keil zwischen die Heere der Elfen und der Zwerge getrieben werden. Allanon hatte unterstrichen, dass in diesem Falle der Dämonen-Lord der Sieger sein würde. Tyrsis war der Schlüssel zum Erfolg oder Scheitern und Balinor der Schlüssel zu Tyrsis.
Janus Senpre hatte noch am Vormittag das Seinige getan, um die Stadt zu sichern. Nachdem Menion sich am Tor von ihm verabschiedet hatte, war er zu Fandwick und Ginnison, den Legionskommandeuren, gegangen. Insgeheim hatten sie herausragende Leute der aufgelösten Legion zusammengeholt und blitzschnell zugeschlagen, um die Tore und die Kasernen zu besetzen. Sie waren gegen den Palast vorgerückt, fast ohne Widerstand, bis schließlich die ganze Stadt rings um den Palast der Buckhannahs wieder in den Händen der Loyalisten gewesen war. Vor dem Palastgelände auf ein Zeichen Menions wartend, hatten die drei Befehlshaber und ihre Anhänger im Innern Schreie von Mord und Totschlag gehört; sie hatten das Schlimmste befürchtet und die Tore aufgebrochen, waren hineingestürzt - leider gerade rechtzeitig, um Balinor an der Verfolgung des fliehenden Stenmin zu hindern. Bei dem Getümmel hatte es kaum Tote gegeben, und die Anhänger von Palance waren entweder gefangengesetzt oder wieder in die Reihen der Legion aufgenommen worden. Zwei der fünf Divisionen waren bereits wiederaufgestellt, und die anderen drei sollten bis Sonnenuntergang stehen. Späher hatten Balinor über den Zug der Nordland-Armee zum Mermidon unterrichtet und ihn zu der Schlussfolgerung gebracht, dass er augenblicklich handeln musste, um die Überquerung zu verhindern.
Höndel und die Elfen-Brüder gingen vor dem Palast ruhelos auf und ab. In ihren Gesichtern spiegelten sich gemischte Gefühle wider. Der Zwerg wirkte so entschlossen wie eh und je, wenn er zum Hochländer und seiner schönen Begleiterin hinübersah. Durin schien älter geworden zu sein; sein schmales Elfengesicht war umwölkt von dem Wissen über das Bevorstehende, während Dayel, obwohl nicht sorglos, hin und wieder ein Lächeln zustande brachte. Menion richtete den Blick wieder auf Balinor und die Legionskommandeure. Ginnisson war ein gedrungener Mann mit brandroten Haaren und muskulösen Armen, Fandwick ein Grauschädel mit weißem Schnurrbart und finsterer Miene; Acton mittelgroß und stämmig, nach allen Berichten ein unübertroffener Reitersmann; Messaline hochgewachsen und breitschultrig, beinahe arrogant wirkend, während er Balinor lauschte; und zuletzt Janus Senpre, zufolge seiner tapferen Haltung in Kern und seiner entscheidenden Rolle bei der Wiedereroberung von Tyrsis zum Kommandeur ernannt. Menion betrachtete die Männer prüfend, als versuche er, den Wert jedes einzelnen einzuschätzen. Balinor drehte sich plötzlich um und kam auf ihn zu, während er Höndel und die Elfen herbeiwinkte.
»Ich mache mich sofort auf den Weg zum Mermidon«, sagte er ruhig, als sie sich um ihn scharten. Menion wollte etwas sagen, aber Balinor hob abwehrend die Hand. »Nein, Menion, ich weiß, was Ihr sagen wollt. Die Antwort ist nein. Ihr bleibt alle hier in der Stadt. Ich würde einem jeden von Euch mein Leben anvertrauen, da aber mein Leben gegenüber dem Wohle von Tyrsis an Bedeutung weit abfällt, bitte ich Euch statt dessen, die Stadt zu schützen. Wenn mir etwas zustoßen sollte, wisst Ihr am besten, wie der Kampf weitergeführt werden muss. Janus bleibt bei Euch als Befehlshaber der Verteidigungsstreitkräfte. Ich habe ihn angewiesen, Euch bei allen Fragen zu Rate zu ziehen.«
»Eventine wird gewiss kommen«, sagte Dayel hastig.
Balinor lächelte und nickte zustimmend.
»Allanon hat uns nie im Stich gelassen. Er wird auch diesmal sein Wort halten.«
»Begebt Euch nicht unnötig in Gefahr«, sagte Höndel mit Nachdruck. »Die Stadt und ihre Menschen brauchen Euch lebend.«
»Lebt wohl, alter Freund.« Balinor drückte dem Zwerg fest die Hand. »Ich verlasse mich vor allem auf Euch. Ihr habt doppelt soviel Erfahrung wie ich und versteht unendlich mehr von Strategie. Passt gut auf Euch auf.« Er wandte sich schnell ab, winkte seinen Offizieren und bestieg den Wagen, der sie zum Stadttor bringen sollte. Janus Senpre nickte Menion beruhigend zu, als die Kutsche sich in Bewegung setzte, begleitet von einer berittenen Eskorte. Die vier Kameraden und Shirl Ravenlock sahen dem Zug nach, bis er verschwunden war und man keinen Laut mehr hören konnte. Höndel murmelte zerstreut etwas von einer nochmaligen Durchsuchung des Palastes, um den verschwundenen Stenmin ausfindig zu machen, und betrat das Gebäude, ohne eine Antwort abzuwarten. Durin und Dayel folgten ihm. Sie konnten ein Gefühl der Bedrückung nicht abschütteln. Es war das erste Mal seit der langen Reise, die sie von Culhaven aus angetreten hatten, dass sie sich für längere Zeit von Balinor trennen mussten, und es war ein beunruhigendes Erlebnis, ihn allein zum Mermidon ziehen zu lassen.