Dann tauchte plötzlich vor der Klippe eine riesige Formation von Reitern und Fußsoldaten auf, um in Kolonnen zu der breiten Steinrampe zu ziehen, die in die Stadt führte. Die Annäherung war fast unbemerkt vor sich gegangen, und das plötzliche Auftauchen, scheinbar aus dem Nichts, rief bei den Beobachtern auf der Mauer Bestürzung hervor. Janus Senpre sprang erschrocken auf den Mechanismus zu, der die Eisenriegel des mächtigen Tores betätigte, für Augenblicke davon überzeugt, dass es dem Feind gelungen war, Balinors Streitmacht zu umgehen und in ihren Rücken zu gelangen. Höndel beschwichtigte ihn jedoch. Er begriff, was sich abspielte, bevor die anderen einen Überblick gewannen. Der Zwerg beugte sich über die Brustwehr und rief in seiner Sprache etwas hinunter, bekam auch schnell Antwort. Höndel nickte den anderen zu und deutete auf den hochgewachsenen Reiter an der Spitze des langen Zuges. Im sanften Mondlicht richtete sich das staubbedeckte Gesicht Balinors nach oben, und seine grimmige Miene bestätigte ihre Befürchtungen. Die Grenzlegion hatte den Mermidon nicht zu halten vermocht, und die Armee des Dämonen-Lords rückte gegen Tyrsis vor.
Es war fast Mitternacht, als die fünf noch verbliebenen Angehörigen des kleinen Trupps aus Culhaven sich in einem kleinen, versteckten Speisezimmer im Palast der Buckhannahs zu einer kurzen Mahlzeit versammelten. Der lange Kampf an Nachmittag und Abend um den Mermidon gegen die Nordland-Armee war verloren, wenngleich unter verheerenden Verlusten für den Feind. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als sollte es den kampferfahrenen Soldaten der Grenzlegion gelingen, das Übersetzen des Gegners auf das Südufer des reißenden Stroms zu verhindern, aber der Feind zählte Tausende, und wo Hunderte scheiterten, setzten Tausende sich endlich durch. Actons Reiter waren blitzartig entlang der Kampflinie vorgestoßen, um jeden Versuch des Gegners, die Fußsoldaten einzuschließen, zu vereiteln. Vorstöße in das Herz der nordländischen Reihen hatten Hunderte von Trollen und Gnomen das Leben gekostet. Es war das grausigste Gemetzel gewesen, das Balinor je erlebt hatte, und der Mermidon hatte sich vom Blut der Toten und Verwundeten rot gefärbt. Trotzdem hatten die feindlichen Truppen immer wieder angegriffen, als setzten sie sich aus gehirnlosen Kreaturen zusammen, ohne Gefühl, ohne Verstand, ohne menschliche Furcht. Die Macht des Dämonen-Lords hatte den kollektiven Geist der Riesenarmee so versklavt, dass selbst der Tod keine Bedeutung mehr besaß. Schließlich hatte ein riesiger Haufe barbarischer Berg-Trolle die Verteidigungslinie der Legion am äußersten rechten Ende durchbrochen; viele waren zwar niedergemacht worden, aber der Kampf hatte die Soldaten von Tyrsis gezwungen, die linke Flanke zu verkürzen. So war es der Nordland-Armee zuletzt doch gelungen, das andere Ufer zu gewinnen.
Inzwischen ging die Sonne bereits unter, und Balinor begriff, dass selbst die besten Soldaten der Welt das Südufer nicht würden halten können, sobald die Dunkelheit hereingebrochen war. Die Legion hatte bei den Kämpfen am Nachmittag nur geringe Verluste erlitten, und so befahl er den beiden Divisionen, sich auf eine Anhöhe mehrere hundert Meter südlich des Mermidon zurückzuziehen und sich neu zu formieren. Er hielt die Kavallerie an den Flanken ständig im Einsatz und ließ sie kurze Vorstöße gegen den Feind unternehmen, damit dieser nicht zur Ruhe kam und zu keinem organisierten Sturmangriff finden konnte. Dann wartete er auf die Dunkelheit. Die Horden der Nordland-Armee setzten nun in voller Stärke über, als die Dämmerung herabsank, und die Männer der Grenzlegion verfolgten mit einem Gemisch aus Furcht und Staunen, wie aus den Hunderten, die über den Fluss kamen, Tausende wurden und noch immer kein Ende abzusehen war. Es war ein schreckliches Schauspiel, das sich den Soldaten von Callahorn bot - eine Armee von derart unfassbarer Größe, dass sie das Land auf beiden Seiten des Mermidon bedeckte, so weit das Auge reichte.
Aber ihre Größe behinderte sie auch in der Manövrierfähigkeit, und die Kommandostruktur wirkte schwerfällig und schlecht organisiert. Man unternahm keinen konzentrierten Vorstoß, um die Legionäre von der kleinen Anhöhe zu vertreiben. Statt dessen wogte die Masse der Armee nach dem Übersetzen am Südufer des Flusses durcheinander, so, als warteten die Soldaten darauf, mitgeteilt zu bekommen, wie es weitergehen sollte. Mehrere Abteilungen schwerbewaffneter Trolle wagten gegen die Legion schnelle Vorstöße, die aber abgeschlagen werden konnten. Als endlich die Dunkelheit hereinbrach, formierte die feindliche Armee sich plötzlich zu langen Kolonnen, und Balinor wusste, dass der erste Großangriff der Legion zum Verhängnis werden musste.
Mit der Geschicklichkeit und dem Wagemut, die ihn zur bewegenden Kraft der legendären Grenzlegion und zum besten Kommandeur im Südland gemacht hatten, setzte der Prinz von Callahorn zu einem überaus schwierigen taktischen Manöver an. Ohne den Angriff des Gegners abzuwarten, teilte er seine Armee plötzlich in zwei Hälften und griff rechts und links von den Nordland-Kolonnen an. Mit blitzschnellen Vorstößen, die Dunkelheit nutzend in einem Gelände, das alle Legionäre gut kannten, zwangen die Soldaten von Tyrsis den Feind, seine Flanken zu einem Halbkreis zusammenzuziehen. Der Kreis wurde immer enger, und die Legionäre zogen sich nach jedem Vorstoß rasch wieder zurück. Balinor und Fandwick hielten die linke Flanke, Acton und Messaline befehligten die rechte.
Der erboste Feind begann wild zurückzuschlagen, war aber behindert durch das ihm unbekannte Terrain, während die elastisch weichenden Legionäre gerade immer außer Reichweite blieben. Langsam zog Balinor seine Flanken zurück und verkürzte die Linien, die nach dem Gegner suchenden Nordland-Soldaten mitziehend. Als die Fußsoldaten sich gänzlich vom Feind gelöst hatten, geschützt durch Dunkelheit und die Ausfälle der eigenen Reiterei, unternahm die letztere einen abschließenden Vorstoß und entzog sich den zuschnappenden Zangen der feindlichen Armee im letzten Augenblick. Die rechte und linke Flanke des Nordland-Heeres trafen plötzlich aufeinander, und jede vermutete in der anderen den verhassten Feind, der seit Stunden nicht zu fassen gewesen war. Ohne Zögern ging man allgemein zum Angriff über.
Wie viele Trolle und Gnomen von eigenen Leuten niedergemacht wurden, sollte man nie erfahren, aber die Kämpfe tobten immer noch, als Balinor und die zwei Divisionen der Grenzlegion Tyrsis sichererreichten. Die Hufe der Pferde waren umwickelt worden, damit der Rückzug nicht auffiel; die Soldaten hatten sich alle Mühe gegeben, lautlos zu sein. Mit Ausnahme eines berittenen Trupps, der zu weit nach Westen geraten, abgeschnitten und dezimiert worden war, hatte die Legion intakt entkommen können. Die der gewaltigen Nordland-Armee zugefügten Verluste hatten allerdings deren Vorrücken nicht aufhalten können, und der Mermidon, die erste Verteidigungslinie von Tyrsis, war verloren.
Nun dehnte sich das riesige Heerlager des Feindes auf dem Grasland unterhalb der Stadt, und die Feuer brannten, so weit das Auge in der Dunkelheit reichte. Im Morgengrauen würde der Angriff auf Tyrsis beginnen. Die vereinigte Macht von Tausenden Trollen und Gnomen würde sich nach dem Willen des Dämonen-Lords gegen den hochragenden Wall aus Stein und Eisen werfen. Irgendwo würde eine Bresche geschlagen werden.
Höndel, der Balinor am kleinen Esstisch nachdenklich gegenübersaß, erinnerte sich wieder des bedrohlichen Gefühls, das er verspürt hatte, als er mit Janus Senpre die Befestigungen der großen Stadt besichtigt hatte. Unzweifelhaft war die Außenmauer ein mächtiges Bollwerk, aber irgend etwas schien nicht in Ordnung zu sein. Er hatte nicht genau bestimmen können, was diese Unruhe in ihm hervorrief, aber selbst hier, im behaglichen Speisezimmer, in Gesellschaft seiner Freunde, konnte er den nagenden Verdacht nicht abschütteln, dass bei den Vorbereitungen auf die lange Belagerung, die ihnen bevorstand, etwas Entscheidendes übersehen worden war.