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Er führte sich noch einmal die Abwehrlinien um die weitläufige Stadt vor Augen. Am Rand der Klippe hatten die Bewohner von Tyrsis ein niedriges Bollwerk errichtet, um den Feind daran zu hindern, sich auf dem Plateau festzusetzen. Wenn man die Nordländer nicht im Grasland unterhalb der Klippe festhalten konnte, wollte die Legion sich in die eigentliche Stadt zurückziehen und darauf vertrauen, dass die gigantische Außenmauer den Ansturm des Feindes stoppen würde. Der rückwärtige Zugang zur Stadt war abgeschnitten durch die fast senkrecht aufragenden Felswände, die sich gleich hinter dem Palast hundert Meter und höher in die Luft erhoben. Balinor hatte ihm versichert, dass die Felswände nicht zu ersteigen seien; sie waren nahezu spiegelglatt, ganz ohne Risse und Vorsprünge, die Halt hätten bieten können.

Der Abwehrwall um Tyrsis musste undurchdringlich sein, und trotzdem war Höndel nicht zufrieden.

Seine Gedanken kehrten kurz zu seiner Heimat zurück - nach Culhaven und zu seiner Familie, die er seit Wochen nicht mehr gesehen hatte. Er war nicht oft zu Hause gewesen, da er fast sein ganzes Leben den schier unaufhörlichen Grenzkriegen im Anar gewidmet hatte. Er vermisste die Wälder und das Grün der Frühlings- und Sommermonate und fragte sich plötzlich, wie er soviel Zeit hatte vergehen lassen können, ohne seine Heimat zu besuchen. Vielleicht würde er sie nie wiedersehen. Der Gedanke zuckte durch sein Gehirn und verlor sich; er hatte keine Zeit für derlei Überlegungen.

Durin und Dayel unterhielten sich mit Balinor, und ihre Gedanken galten dem Westland. Wie Höndel entsann sich Dayel seiner Heimat. Er fürchtete sich vor dem Kampf, der bevorstand, aber er ging gegen seine Angst an, ermutigt von der Gegenwart der anderen, entschlossen, nicht weniger als sie zu leisten, wenn es darum ging, den Feind aufzuhalten, der erschienen war, um sie zu vernichten. Er dachte an Lynliss und sah ihr sanftes Gesicht vor sich. Er würde für ihre Sicherheit ebenso kämpfen wie für die seinige. Durin betrachtete seinen Bruder und sah ihn ein wenig lächeln; er wusste, ohne ihn fragen zu müssen, dass sein Bruder an das Mädchen dachte, das er heiraten würde. Nichts war Durin wichtiger als das Wohlergehen Dayels; er hatte von Anfang an darauf geachtet, immer in der Nähe seines Bruders zu sein, um ihn beschützen zu können. Während der langen Reise nach Paranor waren sie mehrmals in Gefahr geraten, ihr Leben zu verlieren. Der morgige Tag würde noch größere Gefahren bringen, und erneut war Durin willens, über seinen Bruder zu wachen.

Er dachte kurz an Eventine und die kampfstarken Elfen-Armeen, und er fragte sich, ob diese Tyrsis rechtzeitig erreichen würden. Ohne ihre Hilfe würden die Horden des Dämonen-Lords früher oder später die Verteidigungslinien der Stadt durchbrechen. Er griff nach seinem Weinglas und trank in großen Zügen. Seine scharfen Augen glitten über die Gesichter der anderen und blieben kurz an der bedrückten Miene Menion Leahs haften.

Der schlanke Hochländer hatte mit Heißhunger gegessen, da er fast vierundzwanzig Stunden nichts hatte zu sich nehmen können. Er war lange vor seinen Tischgenossen fertig gewesen und hatte sein Weinglas nachgefüllt, bevor er Balinor Fragen über die Kämpfe des Nachmittags stellte. Nun fiel ihm, während der Wein ihm eine leichte Schläfrigkeit bescheren wollte, plötzlich ein, dass der Schlüssel zu allem, was seit Culhaven geschehen war, zu allem, was in den kommenden Tagen bevorstand, Allanon war. Er brachte es nicht mehr über sich, an Shea und das Schwert zu denken, ja, nicht einmal mit Shirl befasste er sich. Er sah vor seinem inneren Auge nur die schwarze, unheimliche Gestalt des rätselhaften Druiden. Allanon besaß die Antworten zu allen Fragen. Er allein kannte das Geheimnis des Talismans, den die Menschen als Schwert von Shannara bezeichneten. Er allein kannte die Absicht hinter dem seltsamen Auftauchen der geisterhaften Erscheinung im Tal von Shale - des Druiden Brimen, eines Mannes, der seit fünfhundert Jahren tot war. Er allein hatte in jedem Augenblick, bei jedem Schritt auf der gefährlichen Reise nach Paranor gewusst, womit zu rechnen war und wie man sich verhalten musste. Aber der Mann selbst war ein Rätsel geblieben.

Nun war er nicht mehr bei ihnen, und nur Flick konnte, wenn er noch lebte, ihn fragen, was mit ihnen geschehen würde. Sie hingen alle von Allanon ab, um zu überleben - aber was würde der riesenhafte Druide tun? Was blieb ihm, wenn das Schwert von Shannara verloren war? Was blieb, wenn der junge Erbe Jerle Shannaras vermisst und wahrscheinlich tot war? Menion biss sich zornig auf die Unterlippe, als der verhasste Gedanke in ihm auftauchte. Shea musste am Leben sein!

Menion verfluchte alles, was sie in diese elende Situation gebracht hatte. Sie hatten zugelassen, dass man sie in die Enge trieb. Nun stand ihnen nur noch ein Weg offen. In der morgigen Schlacht würden viele Menschen sterben und nahezu keiner wissen, warum. Es war ein unausweichlicher Zug des Krieges, dass Männer einfach ihr Leben gaben - schon seit Jahrhunderten war das so. Aber dieser Krieg überstieg jede menschliche Fassungskraft. Er war eine Auseinandersetzung zwischen einem substanzlosen Geisterwesen und sterblichen Menschen. Wie sollte das Böse, das sich im Dämonen-Lord verkörperte, vernichtet werden, wenn man es nicht einmal zu begreifen vermochte? Nur Allanon schien die Natur des Wesens zu begreifen, aber wo war der Druide nun, da sie ihn am dringendsten brauchten?

Die Kerzen auf dem Tisch brannten nieder, und die Dunkelheit rückte näher. An den mit Holz getäfelten und mit Gobelins behängten Wänden flackerten Fackeln, und die Stimmen der Tischgenossen wurden leiser, gedämpfter, als sei die Nacht ein Kind, das nicht geweckt werden durfte. Tyrsis schlief, und draußen in der Ebene schlummerte die Nordland-Armee. Im Frieden und in der Einsamkeit der mondhellen Nacht schien es, als seien alle Lebensformen zur Ruhe gekommen, und der Krieg stelle mit seiner Botschaft von Schmerz und Tod nur eine undeutliche, fast vergessene Erinnerung an längst vergangene Jahre dar. Aber die fünf Männer, die halblaut über schönere Zeiten und Freundschaften sprachen, konnten nicht einmal für Augenblicke die Erkenntnis unterdrücken, dass die Schrecknisse des Krieges nicht weiter entfernt waren als der Sonnenaufgang, unausweichlich wie die Dunkelheit des Dämonen-Lords, die langsam und unerbittlich aus dem Norden Zugriff, um ihnen den Tod zu bringen.

30

Am Morgen des dritten Tages der Suche nach Orl Fane ließen die wolkenbruchartigen Regenfälle, die auf das weite, unfruchtbare Nordland hernieder gegangen waren, nach, und die Sonne erschien wieder als eine trübe, undeutliche Scheibe aus weißem Feuer, herableuchtend durch die nebelige Dunkelheit, die das Fortschreiten der schwarzen Mauer des Dämonen-Lords zurückgelassen hatte. Durch den Sturm war das Gelände völlig verändert worden, die Regenfälle hatten nahezu alle erkennbaren Merkmale weggeschwemmt und in sämtlichen vier Himmelsrichtungen den gleichen Horizont aus Hügeln und Schlammtälern hinterlassen.

Zuerst war das Wiedererscheinen der Sonne ein willkommener Anblick. Ihre Strahlen durchdrangen die verhasste Düsternis, die auf der nackten Erdoberfläche lag, und vertrieben die vom Sturm hervorgerufene Kälte. Erneut begann sich die Landschaft zu verändern, als die Temperatur anstieg. Binnen einer einzigen Stunde war letztere um fünfzehn Grad geklettert und schien noch weiter steigen zu wollen. Die Flüsse in den gewundenen Tälern begannen zu dampfen, und die Luftfeuchtigkeit nahm zu, bis sie alles durchtränkte.

Das schwächliche Pflanzenleben, wiedererstanden nach dem wüsten Sturm, welkte in der Hitze, die schlammige Erde wurde zu hartgebackenem, rissigem Lehm, der kein Leben zu dulden schien. Die Flüsse, Seen und Pfützen begannen rasch auszutrocknen und verschwanden mit erschreckender Schnelligkeit. Die Oberfläche der auf dem versengten Land liegenden Felsblöcke nahm die Hitze auf wie Eisen in rötlicher Glut. Langsam und unerbittlich wurde das Land wieder zu dem, was es vor dem Regensturm gewesen - ein ausgetrocknetes, unfruchtbares Gebiet ohne Leben, stumm und unheimlich unter dem riesigen, wolkenlosen Himmel. Die einzige Bewegung kam vom langsamen, gewölbten Weg der Sonne, die alters los ihrer Bahn von Osten nach Westen folgte, Tage in Jahre und Jahre in Jahrhunderte verwandelte.