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Der Trupp erschöpfter Elfen-Reiter zügelte die verschwitzten Pferde. Man blickte geistesabwesend hinunter ins breite Rhenn-Tal. Zwei Meilen weit dehnte sich das Tal in östlicher Richtung vor ihnen, und die hohen Hänge an beiden Seiten endeten in scharfen Graten über verkümmerten Bäumen und Unterholz. Der legendäre Pass diente seit über tausend Jahren als Durchgang von den unteren Streleheim-Ebenen zu den riesigen Wäldern des Westlandes. Er war eine natürliche Tür zur Heimat der Elfen. An diesem berühmten Pass war die erschreckende Macht der dem Dämonen-Lord unterstehenden Heere von den Elfen-Legionen und Jerle Shannara gebrochen worden. Hier war Brona dem alten Brimen und der geheimnisvollen Kraft des Schwertes von Shannara entgegengetreten und hatte die Flucht ergreifen müssen - zusammen mit seinen Armeen auf dem Rückzug in die Ebene, wo ihn die vorrückenden Zwergenarmeen aufgehalten, gestellt und besiegt hatten. Der Rhenn-Pass hatte den Beginn vom Ende der größten Bedrohung erlebt, der sich die Welt seit den verheerenden Großen Kriegen ausgesetzt gesehen hatte, und die Menschen aller Rassen betrachteten deshalb dieses friedliche Tal als historische Stätte. Sie war ein natürliches Denkmal der menschlichen Geschichte, das zu sehen manche um die halbe Welt zogen, damit auch sie sich als Teil dieses großen Ereignisses empfinden konnten.

Jon Lin Sandor gab Befehl, abzusteigen, und die Elfen-Reiter rutschten dankbar aus den Sätteln. Ihm ging es nicht um die Vergangenheit, sondern um die unmittelbare Zukunft. Sorgenvoll blickte er auf die mächtige schwarze Wand, die sich vom Nordland her über Streleheim hinzog und mit ihrem Nebelschatten den Grenzen des Westlandes und der Elfenheimat näherrückte. Seine scharfen Augen starrten hinüber zum östlichen Horizont, wo die Dunkelheit schon bis zu den Wäldern um die uralte Festung Paranor vorgedrungen war. Er schüttelte verbittert den Kopf und verfluchte den Tag, an dem er sich von seinem König und ältesten Freund getrennt hatte. Er war zusammen mit Eventine aufgewachsen, und als sein Freund die Königswürde erlangt hatte, war er als sein Berater und selbsternannter Leibwächter bei ihm geblieben. Gemeinsam hatten sie sich auf die Invasion der Armeen Bronas, des Geister-Lords, vorbereitet, von dem sie einmal geglaubt hatten, er sei im Zweiten Krieg der Rassen getötet worden. Der rätselhafte Wanderer Allanon hatte die Elfen-Völker gewarnt, und wenngleich manche geneigt gewesen waren, die Warnung in den Wind zu schlagen, verfiel Eventine nicht in diesen Fehler. Allanon hatte sich noch niemals geirrt; seine Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, war rätselhaft, aber erwiesen.

Die Elfen waren Eventines Rat gefolgt und hatten sich auf den Krieg vorbereitet, aber die Invasion hatte auf sich warten lassen. Dann war Paranor gefallen, und mit der Festung war das Schwert von Shannara verschwunden. Wieder war Allanon erschienen und hatte die Elfen aufgefordert, die Ebenen von Streleheim über Paranor zu überwachen, um jeden Versuch der Gnome zu verbinden, das Schwert aus der von ihnen besetzten Druidenfestung fortzuschaffen und nach Norden zu bringen in die Burg des Dämonen-Lords. Wieder hatten sich die Elfen ohne Einwände dazu bereit gefunden.

Aber das Unerwartete war eingetreten, und zwar gerade dann, als Jon Lin Sandor nicht beim König gewesen war. Die in Paranor verschanzten Gnomen hatten überraschend beschlossen, einen Durchbruch zu den sicheren Weiten des tiefen Nordlands zu unternehmen. Drei starke Abteilungen waren gegen die Elfen-Linien vorgestoßen. Eventine und Jon Lin hatten getrennte Truppen angeführt, um zwei dieser gegnerischen Einheiten abzufangen, und es wäre ihnen leicht gelungen, die Gnomen zu besiegen, hätte nicht eine Armee von Gnomen und Trollen, die Bestandteil des riesigen Nordland-Heeres war, eingegriffen. Jon Lins Truppen waren nahezu aufgerieben worden, und er war nur knapp mit dem Leben davongekommen. Zu Eventine hatte er nicht gelangen können. Der Elfen-König war mit seinem ganzen Trupp verschwunden. Seit fast drei Tagen suchte Jon Lin Sandor nun schon nach ihm.

»Wir finden ihn, Jon Lin. So leicht ist er nicht unterzukriegen. Er wird sich durchschlagen.«

Der grimmige Elf nickte knapp und warf einen kurzen Blick auf den jungen Mann neben sich.

»Es ist seltsam, aber ich weiß, dass er lebt«, fuhr der andere fort. »Ich kann es nicht erklären, aber ich spüre das.«

Breen Elessedil war Eventines jüngerer Bruder; sollte sein Bruder sterben, würde er der nächste König der Westland-Elfen sein. Es war aber eine Position, für die er noch nicht bereit war, und erwünschte sie sich auch nicht. Seit Eventines Verschwinden hatte er nichts unternommen, um den Oberbefehl über die Elfen-Armeen oder den Königlichen Rat zu ergreifen, sondern er hatte sich sofort der Suche nach seinem Bruder angeschlossen. Aus diesem Grund herrschte in der Elfen-Regierung nahezu ein Chaos, und was noch vor zwei Wochen ein gegen die bevorstehende Invasion einiges Volk gewesen, stellte sich nun als unsichere, wirre Anhäufung getrennter Gruppen dar, voller Unruhe, weil niemand bereit war, die Führung zu übernehmen.

In hemmungslose Panik würde das Elfen-Volk zwar nicht verfallen; es war zu diszipliniert, um zuzulassen, dass alles auseinander fiel, aber Eventine war eine unbestreitbar machtvolle Persönlichkeit gewesen, und das Volk hatte sich bei seiner Thronbesteigung um ihn geschart. Noch jung, doch von ungewöhnlicher Charakterstärke und untrüglichem gesundem Menschenverstand, war er stets zur Stelle gewesen, um Rat und Tat beizusteuern, und man hatte auf ihn gehört. Die Gerüchte über sein Versehwinden hatten deshalb die Leute tief beunruhigt.

Sowohl Breen Elessedil als auch Jon Lin befassten sich mit nichts anderem als mit der Suche nach dem vermissten König. Nachdem sie Gnomen-Patrouillen umgangen hatten und der Hauptmasse der Nordland-Armee ausgewichen waren, hatten sie sich in dem kleinen abgelegenen Ort Koos frische Pferde und Vorräte verschafft, und nun waren sie erneut unterwegs, um ihren König zu finden.

Jon Lin Sandor glaubte zu wissen, wo Eventine zu finden war, wenn er noch lebte. Die riesige Nordland-Armee war vor fast einer Woche nach Süden weitergezogen, dem Königtum Callahorn entgegen, und sie würde nicht vorankommen, bis die berühmte Grenzlegion vernichtet war. Wenn Eventine in Gefangenschaft geraten war, wie Breen und er selbst glaubten, würden sie ihn als Geisel von höchstem Tauschwert bei den Kommandeuren des Invasionsheeres Bronas finden. Wenn Eventine Elessedil besiegt war, würden Städte, deren Führer ihm nicht ebenbürtig waren, leichter zur Übergabe neigen.

Auf jeden Fall erkannte der Dämonen-Lord die Bedeutung Eventines für sein Volk. Eventine war der beliebteste und geachtetste Führer, den die Elfen seit Jerle Shannara besessen hatten, und sie würden alles tun, um ihn zurückzuholen. Als Toter konnte er dem Geisterkönig nicht von Wert sein, und seine Hinrichtung mochte die Elfen so aufbringen, dass sie sich erneut zusammenrotteten, um Brona zu bekämpfen. Aber lebend war Eventine von unschätzbarem Wert, denn die Elfen würden das Leben ihres Lieblingssohnes nicht in Gefahr bringen wollen. Jon Lin Sandor und Breen Elessedil gaben sich nicht der Illusion hin, Eventine würde ihnen zurückgegeben werden, selbst wenn die Armee gegen die Invasion ins Südland nicht vorging. Sie handelten deshalb auf eigene Faust und vertrauten darauf, ihren Freund und Bruder zu finden, bevor er seine Nützlichkeit verlor - nach der Niederlage des Südlandes.

»Das genügt! Aufsitzen!« Jon Lins ungeduldige Stimme ertönte in der Stille, und die Reiter folgten hastig dem Befehl. Er starrte ein letztes mal zur fernen Schwärze hinüber, dann drehte er sich um und schwang sich auch auf sein Pferd. Breen war schon aufgesessen, und Sekunden später trabte der kleine Trupp ins Tal hinunter. Der Morgen war grau, die Luft roch noch nach dem Regen von gestern. Das hohe Gras war nass unter den Hufen. Tief im Süden konnte man über den Wolken einen Streifen blauen Himmels sehen. Es war ein kühler Tag, und die Elfen ritten in gezügeltem Tempo.