Sie erreichten das Talende und den östlichen Zugang zum Pass. Die Reiter unterhielten sich miteinander, wenngleich nur halblaut, da die Grenzen des Nordlandes unmittelbar hinter dem Pas lagen. Der Weg schlängelte sich zwischen den hohen Felswänden dahin und erreichte kurze Zeit danach die Ebene. Jon Lin blickte in die Weite und zügelte sein Pferd.
»Breen - ein Reiter!«
Der andere setzte sich mit seinem Pferd sofort neben ihn, und gemeinsam starrten sie hinüber zu dem weit entfernten Reiter. Genauer war er nicht zu erkennen. Einen Augenblick lang glaubte Breen, seinen Bruder vor sich zu haben, aber seine Hoffnung erlosch, als er bemerkte, dass der Mann zu klein war für Eventine. Auch reiten konnte er nicht so gut. Als er herankam, sahen sie, dass er sich mit Mühe am Sattelknopf festhielt. Sein breites Gesicht war schweißbedeckt. Er war kein Elf, sondern ein Südländer. Er brachte sein Pferd vor den Elfen zum Stehen und rang nach Atem. Sein Gesicht rötete sich, als er die belustigten Mienen der anderen sah.
»Ich bin vor ein paar Tagen einem Mann begegnet«, sagte der Fremde. »Er bat mich, Jon Lin Sandor, die rechte Hand des Elfen-Königs, aufzusuchen.«
Die Gesichter der Elfen wurden ernst.
»Ich bin Jon Lin Sandor«, sagte der Anführer des Trupps.
Der erschöpfte Reiter seufzte erleichtert und nickte.
»Ich bin Flick Ohmsford und komme bis von Callahorn, um Euch zu finden.« Er stieg unbeholfen ab und rieb sich den schmerzenden Rücken. »Wenn Ihr mir ein paar Minuten Zeit gebt, mich zu erholen, führe ich Euch zu Eventine.«
Shea marschierte schweigend zwischen zwei von den Berg-Trollen dahin. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Keltset ihn und Panamon verraten hatte. Der Hinterhalt war geschickt gelegt gewesen, aber sie hätten wenigstens versuchen können, sich zu wehren. Statt dessen hatten sie auf Keltsets unerwartetes Eingreifen hin auf Widerstand verzichtet und sich entwaffnen lassen. Shea hatte gehofft, dass Keltset einen der Trolle kannte oder, da er ihrer Rasse angehörte, sie dazu überreden würde, sie wieder freizulassen. Aber Keltset hatte nicht einmal versucht, mit den Trollen zu sprechen, sondern zugelassen, dass ihm auch die Hände gefesselt wurden. Nun wurden die drei Gefangenen nach Norden getrieben, hinein in die trostlose Ebene. Der kleine Talbewohner verfügte zwar immer noch über die Elfensteine, aber gegen die Trolle waren sie nutzlos.
Er starrte auf den breiten Rücken Panamons und fragte sich, was im Kopf des reizbaren Diebes vorgehen mochte. Panamon war über das Eingreifen seines stummen Begleiters so erstaunt gewesen, dass er seither kein Wort mehr von sich gegeben hatte. Offenkundig wollte er nicht glauben, dass er den schweigenden Riesen so falsch eingeschätzt haben sollte, dem er das Leben gerettet und auf dessen Freundschaft er sich verlassen hatte. Das Verhalten des Trolls war für sie beide ein Rätsel, aber während Shea nur verwundert war, schien Panamon Creel tief verletzt zu sein. Was sonst auch immer zwischen ihnen gewesen sein mochte, Keltset war sein Freund gewesen, der einzige, auf den sich verlassen zu können er geglaubt hatte. Aus der Fassungslosigkeit des Abenteurers würde bald Hass werden, und Shea wusste, dass es überaus gefährlich war, sich einen Mann wie Panamon Creel zum Feind zu machen.
Wohin sie gebracht wurden, war nicht erkennbar. Die Nordland-Nacht war von undurchdringlicher Schwärze, und Shea sah sich gezwungen, darauf zu achten, dass er nicht fortwährend stolperte, als der Weg zwischen Felsblöcken hindurch und über hohe Kämme führte. Die Troll-Sprache war Shea völlig fremd. Da Panamon keinen Laut von sich gab, konnte Shea nichts in Erfahrung bringen. Wenn die Trolle dahinter kamen, wer er war, würde man sie gewiss zum Dämonen-Lord bringen. Die Tatsache, dass sie ihm die Elfensterne nicht abgefordert hatten, mochte ein Hinweis darauf sein, dass die Trolle sie nur als Eindringlinge betrachteten, ohne zu ahnen, was sie ins Nordland geführt hatte. Daraus ließ sich aber wenig Trost schöpfen; die Trolle würden ihm bald genug auf die Schliche kommen. Er fragte sich plötzlich, was aus Orl Fane geworden sein mochte. Seine Spuren hatten dort aufgehört, wo sie gefangengenommen worden waren, also musste auch er in die Hände der Trolle gefallen sein. Aber wohin hatten sie ihn gebracht, und was war aus dem Schwert von Shannara geworden?
Sie marschierten stundenlang durch die Dunkelheit. Shea verlor bald jedes Zeitgefühl und war schließlich so erschöpft, dass er zusammenbrach und wie ein Sack auf der breiten Schulter eines Trolls weitergeschleppt wurde. Shea erwachte, als der Trupp ein fremdes Lager erreichte. Er spürte, wie er heruntergehoben wurde. Dann wurde er in ein großes Zelt geführt. Man überprüfte die Fesseln an seinen Handgelenken und band ihm auch die Füße. Dann wurde er alleingelassen. Panamon und Keltset hatte man an einen anderen Ort gebracht.
Er versuchte die Lederschnüre zu zerreißen, mit denen man ihm Hände und Füße zusammengebunden hatte, aber sie lockerten sich nicht einmal, so dass er es bald wieder aufgab. Er spürte, wie ihn die Müdigkeit übermannte, und wollte sich dagegen wehren, wollte sich zwingen, einen Fluchtplan zu überdenken. Je mehr er sich aber anstrengte, desto schwerer fiel es ihm, einen klaren Gedanken zu fassen, und alles zerlief in einem grauen Nebel. Wenige Minuten später war er wieder eingeschlafen.
Nur Augenblicke schienen ihm vergangen zu sein, als er von groben Händen geweckt wurde, die ihn schüttelten. Er setzte sich betäubt auf, während ein gedrungener Troll etwas Unverständliches zu ihm sagte und auf einen gefüllten Teller deutete, bevor er das Zelt wieder verließ und in den Tag hinaustrat. Shea kniff die Augen zusammen. Erstaunt stellte er fest, dass die Lederfesseln entfernt worden waren. Er rieb sich Hand- und Fußgelenke, um die Zirkulation anzuregen; dann aß er, was man ihm gebracht hatte.
Vor dem Zelt schien ein wildes Durcheinander zu herrschen, man hörte die aufgeregten Rufe von Trollen, die hin und her eilten. Shea verschlang den letzten Bissen und hatte sich eben entschlossen, einen Blick nach draußen zu werfen, als sich der Zelteingang verdunkelte. Ein mächtiger Troll kam herein und bedeutete Shea, ihm zu folgen. Der Talbewohner fasste sich an den Rock, unter dem sich die Elfensteine in ihrem Lederbeutel befanden, und ging widerwillig mit.
Eine Eskorte von Trollen führte den kleinen Südländer durch ein großes Lager von unterschiedlichen Zelten und Steinhütten auf einer Klippe, die umgeben war von niedrigen Bergkämmen. Shea sah zum fernen Horizont hinüber und erkannte, dass sie hoch über der trostlosen Ebene waren, die sie in der vergangenen Nacht durchquert hatten. Das Lager wirkte leer, und die Stimmen, die Shea vorher vernommen hatte, waren verstummt. Die Feuer waren niedergebrannt. Ein kalter Schauer huschte Shea über den Rücken, als ihm der Gedanke kam, dass er vielleicht zu seiner Hinrichtung geführt würde. Weder von Panamon noch von Keltset war etwas zu sehen. Allanon, Flick, Menion Leah und die anderen befanden sich irgendwo im Südland und ahnten nichts von seinem Unglück. Er war allein und würde sterben müssen. Er war von der Angst so gelähmt, dass er nicht einmal daran dachte, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Bleich schritt er zwischen den Bewachern durch das verlassene Lager. Vor ihnen ragte ein Grat auf, als Grenze des Lagers, dann hatten sie die Hütten und Zelte hinter sich und standen auf einer großen, offenen Lichtung. Shea riss ungläubig die Augen auf.
Dutzende von Trollen saßen in einem weiten Halbkreis gegenüber dem Berggrat. Die Köpfe drehten sich Shea kurz zu, als er die Lichtung betrat. Vor dem Grat saßen drei verschieden große Trolle, wohl auch verschiedenen Alters, wie Shea vermutete, von denen jeder einen farbig bemalten Stab mit einem schwarzen Wimpel in der Hand hielt. Panamon Creel saß ein wenig abseits. Seine nachdenkliche Miene veränderte sich nicht, als er Shea erblickte. Die Aufmerksamkeit aller galt der riesigen Gestalt Keltsets vor dem Halbkreis der Trolle. Er hatte die Arme verschränkt. Als Shea in den Halbkreis geführt wurde und sich neben Panamon niederließ, schien ihn dieser nicht zu bemerken. Eine Weile blieb es still. Es war das merkwürdigste Schauspiel, das Shea je erlebt hatte. Einer der drei Trolle vor dem Halbkreis stand auf und stieß den Stab auf den Boden. Die ganze Versammlung erhob sich, drehte sich ruckartig nach Osten und sprach einige Worte in ihrer fremden Sprache. Dann setzte sich alles wieder hin.