»Sie haben gebetet, verstehst du.« Es waren die ersten Worte, die Panamon von sich gab, und Shea zuckte erstaunt zusammen. Er sah den Dieb von der Seite an, aber Panamon blickte zu Keltset hinüber. Ein zweiter Stabträger stand auf und sprach kurz zu den versammelten Trollen, wobei er mehrmals auf Panamon und Shea wies. Der kleine Talbewohner wandte sich erwartungsvoll Panamon zu.
»Das ist ein Prozess«, erklärte der Dieb ausdruckslos. »Aber er gilt nicht dir oder mir. Wir sollen zum Schädelberg gebracht werden, hinter der Messerkante, zum Reich des Dämonen-Lords, wo wir festgehalten werden sollen für - ich weiß nicht, wofür. Ich glaube, sie wissen noch nicht, wer wir sind. Der Geister-Lord hat befohlen, dass alle Fremden zu ihm gebracht werden müssen, und man macht mit uns keine Ausnahme. Es besteht immer noch Hoffnung.«
»Aber ein Prozess -« begann Shea zweifelnd.
»Gegen Keltset. Er hat sich auf das Recht berufen, von seinen eigenen Leuten vor Gericht gestellt zu werden, statt dass man ihn Brona übergibt. Das ist ein alter Brauch - die Bitte darf nicht abgeschlagen werden. Er wurde bei uns gefunden, obwohl sein Volk mit unserer Rasse im Krieg liegt. Damit gilt er automatisch als Verräter. Ausnahmen gibt es nicht.«
Shea warf einen Blick auf Keltset. Der riesenhafte Troll saß in der Mitte der Versammlung, ohne sich zu regen, während die Stimme des Stabträgers monoton weitersprach. Wir haben uns geirrt, dachte Shea. Keltset hat mich und Panamon nicht verraten. Aber weshalb hatte er zugelassen, dass sie sich ohne Gegenwehr ergaben, wenn er wusste, dass auch sein Leben verwirkt war?
»Was werden sie mit ihm machen, wenn sie entscheiden, dass er ein Verräter ist?« fragte er.
Panamon zuckte die Achseln.
»Ich weiß, was du denkst.« Die Stimme des Diebes klang erregt. »Er setzt alles auf eine Karte. Wenn er für schuldig befunden wird, stößt man ihn augenblicklich die nächste Klippe hinunter.« Er machte eine Pause und sah Shea an. »Wir können ihm nicht helfen.«
Sie verstummten, als der Sprecher seine Rede beendete und sich wieder setzte. Dann trat ein anderer Troll vor die drei Wimpelträger, bei denen es sich wohl um die Richter handelte, und gab eine kurze Erklärung ab. Ihm folgten mehrere Stammesgenossen, die alle auch kurze Ansprachen hielten und auf Fragen der Richter antworteten. Shea verstand kein Wort, vermutete aber, dass es sich bei den Befragten um Angehörige des Trupps handelte, dem er und seine Begleiter in die Hände gefallen waren. Das Wechselgespräch schien sich endlos fortzusetzen. Keltset bewegte keinen Muskel.
Shea betrachtete den ausdruckslosen Riesen und konnte nicht begreifen, warum er zugelassen hatte, dass sich die Dinge so entwickelten. Shea und Panamon wussten schon seit geraumer Zeit, dass Keltset kein gewöhnlicher Ausgestoßener war, vertrieben von seinem Volk. Er war auch nicht einfach der Dieb und Abenteurer, als den Panamon ihn ursprünglich dargestellt hatte. In den seltsam sanften Augen leuchtete hohe Intelligenz, die ein unausgesprochenes Wissen über das Schwert von Shannara, den Dämonen-Lord und selbst Shea verriet. Im Herzen des Riesen war etwas Tiefgründendes verborgen. Wie bei Allanon, dac hte Shea plötzlich. Auf irgendeine Weise waren beide der Schlüssel zum Geheimnis des Schwerts von Shannara. Shea empfand das als unheimliche Offenbarung und schüttelte den Kopf, aber es blieb keine Zeit für weitere Überlegungen mehr.
Die Zeugen waren befragt, und die drei Richter forderten den Angeklagten nun auf, sich zu verteidigen. Einen schier endlosen Augenblick herrschte lastendes Schweigen, als die Richter, die versammelten Trolle und die beiden Männer darauf warteten, dass Keltset aufstand und reagierte. Der Riesen-Troll saß immer noch regungslos da, wie von einer tiefen Trance erfasst. Shea wurde von dem wilden Drang geschüttelt, irgend etwas zu tun, aufzuspringen, zu schreien, nur, damit diese unerträgliche Stille nicht länger anhielt, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Die Sekunden verrannen. Dann erhob sich Keltset ganz plötzlich.
Er stand auf, reckte sich und nahm plötzlich die Haltung eines Wesens an, das mehr war als ein Sterblicher. Stolz trat er der Versammlung und den Richtern gegenüber. Er griff unter den breiten Ledergürtel und zog eine schwarze Metallkette mit Anhänger heraus. Er hielt sie kurze Zeit in den Händen. Die Richter rissen die Augen auf. Shea sah ein Kreuz in einem Kreis, dann hob der Riese die Kette über den Kopf und legte sie sich um den Hals.
»Bei den Göttern, denen wir das Leben verdanken ... ich kann es nicht fassen«, flüsterte Panamon.
Die Richter standen entgeistert auf. Als Keltset sich langsam herumdrehte, stießen die versammelten Trolle verwunderte Rufe aus, sprangen auf und deuteten wild auf den leidenschaftslosen Riesen in ihrer Mitte. Shea schaute mit offenem Mund zu.
»Panamon, was hat das zu bedeuten?« fragte er schließlich.
Der Lärm wurde immer größer, alles schrie durcheinander, und Panamon Creel war plötzlich auf den Beinen. Er legte eine Hand auf Sheas schmale Schulter.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte der Dieb freudig. »Die ganzen Monate hindurch habe ich nichts davon geahnt. Das hat er die ganze Zeit über vor uns geheimgehalten, Shea. Deshalb ließ er zu, dass man uns gefangen nahm. Aber es muss noch mehr ...«
»Wollt Ihr mir vielleicht endlich verraten, was hier vorgeht?« stieß Shea hervor.
»Der Anhänger, Shea das Kreuz im Kreis!« antwortete Panamon. »Das ist der Schwarze Irix, die höchste Auszeichnung, die größte Ehre, die das Troll-Volk einem aus seiner Mitte erweisen kann. Wenn man in einer ganzen Lebensspanne drei verliehen sieht, ist das ungewöhnlich. Um seiner würdig zu sein, muss man das Abbild all dessen sein, was die Troll-Nation verehrt und erstrebt. Man muss beinahe ein Gott sein. Irgendwann in seiner Vergangenheit hat Keltset sich diese Auszeichnung verdient - und wir ahnten nichts davon.«
»Aber was wird man nun dazu sagen, dass er in unserer Gesellschaft gefunden wurde?«
»Jeder, der den Irix trägt, ist unfähig, sein Volk zu verraten«, sagte Panamon. »Die Ehre bringt grenzenloses Vertrauen mit sich. Der Träger würde niemals die Gesetze seines Volkes übertreten - man hält ihn nicht einmal für fähig, an derlei zu denken. Man glaubt, der Bruch des Vertrauens würde grässlichste Strafen nach sich ziehen, andauernd in alle Ewigkeit. Kein Troll würde das für möglich halten.«
Shea starrte wie betäubt auf Keltset, während das Geschrei unvermindert weiterging. Der Riesen-Troll hatte sich seinen Richtern zugewandt, die vergeblich bemüht waren, die Ruhe wiederherzustellen. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Lärm sich so weit gelegt hatte, dass man einzelne Stimmen verstehen konnte. Die Trolle setzten sich und warteten auf Keltsets Mitteilungen, die er in Taubstummensprache geben musste. Es gab eine Pause, bis ein geeigneter Mann, der seine Zeichensprache übersetzen konnte, auftauchte. Dieser Mann fasste alles in die Troll-Sprache. Es gab einen kurzen Wortwechsel mit einem der Richter, von dem Shea natürlich nichts verstand, aber zum Glück hatte Panamon schon damit begonnen, Shea zuzuflüstern, was sich zutrug.
»Er hat ihnen gesagt, dass er aus Norbane kommt, einer der größeren Troll-Städte im Charnal-Gebirge, hoch im Norden. Sein Familienname ist Mallicos - er gehört einer uralten und ehrenreichen Familie an. Aber alle ihre Angehörigen sind getötet worden, vermutlich von Zwergen, die den Versuch unternahmen, die Stadt zu plündern. Der Richter fragte Keltset, wie er entkommen sei; man hatte auch ihn für tot gehalten. Es muss sich um ein furchtbares Blutbad gehandelt haben, wenn die Nachricht davon bis hierher gedrungen ist. Aber pass auf, Shea, du wirst staunen! Keltset sagt, die Abgesandten des Dämonen-Lords hätten seine Familie ausgerottet. Die Schädelträger seien vor fast einem Jahr nach Norbane gekommen, hätten die Herrschaft an sich gerissen und die Troll-Armeen unter ihr Kommando gezwungen. Es sei ihnen gelungen, fast die ganze Stadt davon zu überzeugen, dass Brona von den Toten wiederauferstanden sei, dass er Jahrtausende überlebt habe und von sterblichen Händen nicht getötet werden könne. Die Familie Mallicos sei eine der herrschenden Familien in Norbane gewesen und habe sich geweigert, mit den Abgesandten des Dämonen-Lords gemeinsame Sache zu machen. Sie habe vielmehr verlangt, dass die Stadt sich gegen den Dämonen-Lord stelle. Keltsets Wort habe Gewicht besessen, weil er Träger des Schwarzen Irix gewesen sei. Der Dämonen-Lord habe die ganze Familie Mallicos ausrotten lassen, mit Ausnahme Keltsets, den er in seine Festung bringen ließ. Die Geschichte mit den Plünderern war eine Täuschung, um die Trolle dazu zu bewegen, dass sie sich der Invasion des Südlandes anschlössen.