In den späten Nachmittagsstunden griff die Nordland-Armee jedoch wieder an. Während Reihen von Bogenschützen die niedrigen Schanzen mit Pfeilen beschossen, unternahmen große Trupps von Gnomen und Trollen Vorstöße gegen die Verteidiger, vergeblich bemüht, einen schwachen Punkt zu entdecken. Mit fahrbaren Rampen, kleinen Sturmleitern und Wurfankern mit Seilen, mit allem versuchte man es, um eine Bresche in die Abwehrmauer zu schlagen, aber die Angriffe wurden stets abgewiesen. Die immer wieder vorgetragenen Attacken hatten den Sinn, die Leute von Tyrsis zu zermürben. Der lange Tag neigte sich langsam in der Abenddämmerung, und noch immer tobten die Kämpfe. Sie endeten in Dunkelheit und Tragik für die Grenzlegion. Als sich das Zwielicht auf das blutige Land senkte, flogen ein letztes Mal Speere und Pfeile in dichten Wolken zwischen den erschöpften Armeen hin und her, obschon die Schützen kaum noch etwas sehen konnten. Ein verirrter Pfeil bohrte sich in Actons Kehle, als der Reiterführer der Legion von seinem Posten an der linken Abwehrflanke zurückkehren wollte; der große Kämpfer wurde vom Pferd geschleudert und starb wenige Augenblicke danach in den Armen seiner Kameraden.
Das Königreich des Dämonen-Lords war das unheimlichste, trostloseste Stück Land in der ganzen erforschten Welt - ein nackter, lebloser Ring von unüberwindbaren Todesfallen. Die sanfte, lebensspendende Hand der Natur war von diesem dunklen Reich längst abgezogen, und die Wildnis war eingehüllt in Schweigen. An der Ostgrenze dehnte sich der riesige Malg-Sumpf mit seinem fauligen Gestank und seiner Düsternis, ein grausiges, weitläufiges Moor, das noch kein Lebewesen hatte durchschreiten können. Unter dem seichten Wasser, auf dem farbloser Tang schwamm, der morgens wuchs und abends abstarb, hatte sich die Erde in Schlamm und Treibsand verwandelt, und alles, was in deren Griff geriet, wurde unbarmherzig hinabgezogen. Der Malg-Sumpf galt als bodenlos, und wenn man manchmal auch hier und dort einzelne Stellen fester Erde und riesige, verwitterte Baumstümpfe sehen konnte, gingen auch diese der Reihe nach unter.
Ganz oben im Norden, vom Malg-Sumpf in Richtung Westen, gab es eine Reihe niedriger Bergzüge mit dem passenden Namen »Rasiermesser«. Durch dieses Gebirge führten keine Pässe, und ihre breiten, steil abfallenden Rücken waren schroffe Felsgebilde, wie aus dem Erdinneren hinaufgedrückt. Ein erfahrener und ent schlossener Bergsteiger hätte die »Rasiermesser« vielleicht überwinden können - ein, zwei Tollkühne hatten es sogar auch schon versucht -, wären nicht die außerordentlich giftigen Riesenspinnen gewesen, die in ungeheurer Zahl überall im Gebirge lauerten. Die gebleichten Gebeine der Toten, als kleine, weiße Flecken auf dunklem Fels erkennbar, waren stumme Zeugen des Wirkens dieser Biester.
Es gab eine Bresche in dem tödlichen Ring, wo die »Rasiermesser« in den Vorbergen an der Nordwestecke des Reiches ausliefen. Auf eine Strecke von fünf Meilen südwärts war dort das Land begehbar und unmittelbar in das Herz des Barnerenzirkels geöffnet. Hier gab es keinen natürlichen Schutz gegen Eindringlinge, aber die kleine Pforte zum Inneren des Reiches war der einzige Zugang und damit auch die Falltür zu dem Käfig, in dem der Herr und Meister darauf wartete, dass Ahnungslose sich verirrten. Augen und Ohren, die nur auf seinen Befehl hörten, bewachten den schmalen Landstreifen Tag und Nacht. Der Ring konnte augenblicklich geschlossen werden. Unmittelbar unter den Vorbergen erstreckte sich fast fünfzig Meilen weit eine riesige, wasserlose Wüste, »Kierlak« genannt. Ein schwerer, giftiger Dunst hing unsichtbar über den weiten Sandebenen, erstanden aus den Wassern des Flusses Lethe, eines giftigen Stromes, der sich vom Süden träge herauf wand und in einen kleinen See im Inneren mündete. Selbst Vögel, die dem tödlichen Dunst zu nahe kamen, fielen binnen Sekunden leblos vom Himmel. Wesen, die in dem schrecklichen Schmelzofen aus Sand und giftiger Luft starben, zerfielen in Stunden und verwandelten sich in Staub, so dass keine Spur von ihnen blieb.
Die gewaltigste Barriere jedoch erstreckte sich drohend quer über die Südgrenze des verbotenen Gebietes. Sie begann am Südostrand der Kierlak-Wüste und verlief in östlicher Richtung zu den schlammigen Rändern des Malg-Sumpfes. Die Messerkante. Wie riesige Steinspeere, von einem unvorstellbaren Giganten in den Boden gerammt, ragten diese Berge empor. Sie sahen nicht so sehr aus wie Berge, eher wie eine Reihe ungeheurer Gipfelfinger, die den Horizont umkrallten. An ihrem Fuß toste das giftige Wasser des Lethe, der im Malg-Sumpf entsprang und sich nach Westen schlängelte, entlang der gewaltigen Felsschranke, um in die undurchdringlichen Dünste der Kierlak-Wüste aufzugehen. Nur ein von unerklärlichem Wahnsinn Getriebener hätte den Versuch unternehmen wollen, die Messerkante zu erklimmen.
Es gab einen Durchgang in diesem Hindernis, eine kleine, gewundene Schlucht. Sie führte zu einer Reihe schroffer Vorberge, die sich mehrere tausend Meter weit bis zum Fuß eines einzelnen Berges am äußersten südlichen Rand des Ringes erstreckten. Die zernarbte Oberfläche des Berges war von der Zeit und den Elementen angenagt, so dass die Südwand besonders drohend wirkte. Selbst bei der oberflächlichsten Betrachtung fiel einem sofort die erschreckende Ähnlichkeit der Südwand mit einem menschlichen Totenschädel auf. Die Bilder glichen sich: nackt und leblos, die Schädeldecke rund und schimmernd über den leeren Augenhöhlen, die Backen hohl, der Kiefer eine schiefe Reihe von Zähnen und Knochen. Das war das Heim des Herrn und Meisters. Das war das Reich Bronas, des Dämonen-Lords. Allüberall trug es das Zeichen des Totenschädels, das unauslöschliche Siegel des Todes.
Es war Mittag, aber die Zeit schien stillzustehen, und die riesige ausgezehrte Festung war eingehüllt in eine unheimliche Stille. Das vertraute Grau hielt Sonne und Himmel fern, das graubraune Gelände von Fels und Erde ließ kein sterbliches Leben erkennen. Aber an diesem Tag lag doch mehr in der Luft und schnitt durch Stille und Leere in Fleisch und Blut der Männer, die durch den einzigen Zugang in der massiven Messerkante schritten. Es war ein drängendes Gefühl der Eile, das über dem verwitterten Antlitz des Reiches von Brona, dem Dämonen-Lord, hing, so als wären Ereignisse der Zukunft zu schnell durch die Zeit gerast und drängten sich nun in gieriger Erwartung zusammen, um an die Reihe zu kommen.
Die Trolle schlurften durch den gewundenen Canyon, vor den hochragenden Felsen beinahe zwergenhaft klein, wie Ameisen. Sie betraten das Reich der Toten wie kleine Kinder, die in ein fremdes, dunkles Zimmer gehen, innerlich verängstigt, zögernd, aber trotzdem entschlossen, zu sehen, was jenseits der Schwelle lag. Sie wurden nicht aufgehalten, jedoch beobachtet. Man erwartete sie. Ihr Erscheinen kam nicht als Überraschung. Sie näherten sich, ohne in Gefahr zu geraten, von den Gehilfen des Meisters überfallen zu werden. Ihre ausdruckslosen Gesichter tarnten ihre wahren Absichten, sonst wären sie nie über das Südufer des Lethe hinausgekommen. Denn in ihrer Mitte befand sich der Letzte eines Stammes, den der Geister-König ausgerottet geglaubt hatte, der letzte Sohn des Elfen-Hauses Shannara.