Nahezu acht Stunden lang schlugen die tapferen Verteidiger von Tyrsis einen Feind zurück, der in zwanzigfacher Übermacht angetreten war. Stürmleitern und Wurfanker wurden systematisch zerschmettert und durchtrennt, gegnerische Soldaten hinabgestoßen, sobald sie die Höhe erreichten, und Lücken in der Abwehrlinie geschlossen, wenn sie sich zu vergrößern drohten. Die tapferen Taten der einzelnen Legionäre waren zu zahlreich, als dass man sie aufzählen könnte. Sie kämpften ohne Unterlass, ohne Ablösung, gegen übermächtige Gegner, in dem Wissen, dass der Feind keinen Pardon gewähren würde, sollte er siegen. Acht Stunden lang rannte das Nordland-Heer gegen die Schanzen der Legion vergeblich an. Aber endlich wurde an der linken Abwehrflanke ein Einbruch erzielt. Mit Triumphgeheul stürmte der Feind auf die Klippe.
Nach Actons Tod hatte der alternde Fandwick allein das Kommando in diesem Teil der Verteidigungslinie geführt. Er zog seine geschrumpften Reserven zusammen und warf sie in den Kampf, um den Durchbruch der Nordländer zu verhindern. Lange Zeit wogte das Kampfgetümmel in der aufgerissenen Lücke hin und her, als die entschlossenen Angreifer sich mühten, die gewonnene Position zu halten und auszubauen. Dutzende starben auf beiden Seiten, darunter der tapfere Fandwick.
Balinor führte vom Mittelabschnitt neue Reserven heran, um die aufgerissene Abwehrfront wieder zu schließen, und das gelang ihm endlich auch, aber Augenblicke später gab es neue Einbrüche an der linken Flanke, und der ganze Abschnitt begann zu wanken und auseinander zubrechen. Der König von Callahorn begriff, dass seine Armee die vorgeschobene Verteidigungslinie nicht mehr zu halten vermochte, und wies die noch lebenden Kommandeure an, den geordneten Rückzug in die Stadt einzuleiten. Balinor stützte die zerbröckelnde linke Flanke und zog sie zurück, leistete dem Feind hinhaltenden Widerstand und brachte den ganzen Abschnitt schließlich in die Stadt.
Es war ein bitterer Augenblick für die Südländer, die sich nun daranmachten, die große Außenmauer zu verteidigen. Die Nordland-Armee setzte jedoch nicht nach, sondern riss die Abwehrbefestigungen ab und errichtete sie in einiger Entfernung neu als eigene Abwehrlinie, gerade außer Reichweite der Bogenschützen von Tyrsis. Die erschöpften Soldaten der Grenzlegion sahen von den Stadtmauern aus stumm zu, während der sonnige Nachmittag verrann und die Dämmerung sich ankündigte. Das Lager der Nordland-Armee wurde auf das Gelände unterhalb der Stadt verlegt, und die Armee begann ihre Wachfeuer anzuzünden, als die Dunkelheit sich herabsenkte. In den letzten Augenblicken des Tageslichts verriet der Gegner einen Teil seines Plans, die Mauern von Tyrsis zu erobern. Man brachte große, schräge Rampen in Aufstellung, dann rollten aus dem Zwielicht drei gigantische Belagerungstürme heran, von denen jeder leicht die Höhe der Außenmauer hatte. Die Türme wurden hinter dem Lager des Feindes aufgestellt. Von der Stadt aus waren sie deutlich zu sehen. Es handelte sich unzweifelhaft um eine Art psychologischer Kriegführung, mit dem Ziel, die belagerte Grenzlegion zu entnerven.
Über dem Stadttor beobachtete Balinor die Vorgänge, umringt von seinen Kommandeuren und den Freunden aus Culhaven. Er spielte kurz mit dem Gedanken eines nächtlichen Überfalls auf das feindliche Lager, um die Belagerungstürme niederzubrennen, verwarf die Idee aber wieder schnell. Man würde damit rechnen, dass er etwas Derartiges unternahm, und die Stadttore die ganze Nacht über sicherlich scharf im Auge behalten. Außerdem würde es der Legion nicht schwerer fallen, die Türme in Brand zu stecken, als vorher die Rampen, sobald sie einmal herangeführt wurden.
Balinor schüttelte den Kopf und zog die Brauen zusammen. Das ganze Angriffskonzept der Nordland-Armee hatte etwas Sonderbares an sich, aber es gelang ihm nicht, es zu durchschauen. Dem Feind musste eigentlich klar sein, dass es ihm mit den Belagerungstürmen niemals gelingen konnte, die große Mauer zu überwinden. Man musste etwas anderes im Schilde führen. Balinor fragte sich zum hundertstenmal, ob die Elfen-Armee die Stadt noch rechtzeitig zum Entsatz erreichen würde. Es war dunkel geworden, und nachdem er überall hatte Doppelposten aufstellen lassen, lud er seinen Stab zum Abendessen ein.
Versteckt in einem Wäldchen auf einem niedrigen Hügelkamm mehrere Meilen westlich von Tyrsis betrachtete ein kleiner Reitertrupp die Spuren der verheerenden Schlacht auf der Ebene, während der Abend sich nieder senkte. Stumm verfolgten die Männer, wie die riesigen Belagerungstürme hinter den Linien des Nordland-Heeres bereitgestellt wurden, um am nächsten Morgen beim Sturm auf die befestigte Stadt eingesetzt zu werden.
»Wir sollten ihnen eine Nachricht zukommen lassen«, sagte Jon Lin Sandor halblaut. »Balinor wird erfahren wollen, dass unsere Armee auf dem Weg zu ihm ist.«
Flick warf einen Blick auf Eventine mit seinen Verbänden. Die Augen des Elfen-Königs schienen zu lodern, als er die belagerte Stadt betrachtete.
»Ich hoffe, dass die Armee unterwegs ist«, murmelte Eventine. »Breen ist seit fast drei Tagen fort. Wenn er bis morgen nicht zurückkommt, gehe ich selbst.«
Sein Freund legte die Hand auf die gesunde Schulter des Königs.
»Du bist nicht in der Verfassung für einen weiten Ritt, Eventine. Dein Bruder lässt dich nicht im Stich. Balinor ist ein erfahrener Kämpfer, und die Mauern von Tyrsis sind noch nie erstürmt worden, seit die Stadt besteht. Die Legion kann sich lange genug halten.«
Es blieb eine Weile still. Flick schaute zur dunklen Stadt hinüber und fragte sich, wie es seinen Freunden gehen mochte. Auch Menion musste sich hinter diesen Mauern befinden. Der Hochländer konnte nicht wissen, was Flick zugestoßen war, oder welche Gefahren Eventine bestanden hatte. Ebenso wenig konnte er ahnen, was aus Allanon, dem Unberechenbaren, geworden war, der ohne erkennbaren Grund verschwunden war, nachdem der Talbewohner sich mit dem Elfen-Suchtrupp eingefunden hatte. Der Druide hatte seit seinem Auftauchen in Shady Vale zwar schon oft manches im unklaren gelassen, war aber noch nie ohne eine Erklärung verschwunden. Vielleicht hatte er mit Eventine gesprochen ...
»Die Stadt ist eingeschlossen, jeder Zugang überwacht«, sagte Eventine. »Es wäre außerordentlich schwierig, durch die feindlichen Linien zu gelangen, und sei es nur, um Balinor eine Nachricht zu überbringen. Aber du hast recht, Jon Lin - er sollte wissen, dass wir ihn nicht vergessen haben.«
»Wir sind nicht stark genug, um nach Tyrsis durchzubrechen oder auch nur die Nachhut der Nordland-Armee anzugreifen«, meinte sein Freund nachdenklich, »aber ...« Er starrte hinüber zu den dunklen Umrissen der Belagerungstürme in der Ebene.
»Eine kleine Geste kann nicht schaden«, ergänzte der König mit Nachdruck.
Es war noch nicht Mitternacht, als Balinor auf den Wachtturm über dem Stadttor gerufen wurde. Augenblicke später stand er sprachlos an der Brustwehr, umgeben von Höndel, Menion, Durin und Dayel, und starrte hinunter auf das Chaos, das sich im aufgescheuchten Lager des Feindes auszubreiten begann. Hinter dem weitläufigen Heerlager war der mittlere der drei gigantischen Belagerungstürme ein lodernder Scheiterhaufen, der das Grasland im Umkreis von Meilen erhellte. Verzweifelt hetzten Schwärme von Soldaten an den anderen Türmen empor, um zu verhindern, dass die Flammen auf sie übergriffen. Es war unverkennbar, dass die Invasoren völlig überrascht worden waren. Balinor sah seine Begleiter an und lächelte froh. Hilfe war also nicht weit.
Der Morgen des dritten Tages dämmerte herauf in dumpfer Stille, die wie ein Leichentuch über dem Land von Callahorn und den Armeen von Norden und Süden hing. Die großen Kriegstrommeln der Gnome blieben stumm, sie waren ebenso wenig zu vernehmen wie Angriffsgeschrei. Die Sonne ging blutrot im fernen Osten auf. Ein dichter Dunst lag über dem betauten Land. Nichts rührte sich, kein Laut war zu vernehmen. Die Soldaten der Grenzlegion auf den Mauern von Tyrsis warteten nervös und starrten in die Düsternis, um einen Blick auf den Gegner zu erhäschen.