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Balinor befehligte den Mittelabschnitt der großen Außenmauer, Ginnisson hielt die rechte Seite, Messaline die linke. Janus Senpre führte das Kommando über die Stadtgarnison und die Reserven. Menion, Höndel und die Elfen-Brüder standen stumm neben Balinor und fröstelten in der kalten Morgenluft. Sie hatten nur wenig geschlafen, fühlten sich aber hellwach und waren von einer sonderbaren Ruhe erfüllt. Sie hatten sich in den vergangenen achtundvierzig Stunden mit ihrer Lage abgefunden. Sie hatten Männer zu Tausenden sterben sehen, und ihr eigenes Leben erschien neben dem schrecklichen Blutbad, das dieses Land heimgesucht hatte, beinahe bedeutungslos. Das Grasland unter der Stadt war zerrissen und zerfurcht, die Erde getränkt von Blut, übersät mit Toten. Ein noch größeres Gemetzel stand in Aussicht, bis eine der beiden Armeen vollständig vernichtet war. Die Verteidiger von Tyrsis hatten die moralischen Beweggründe hinter dem Wort Überleben vergessen; der Krieg war zu einem mechanischen Reflex geworden, der seine eigene Logik besaß und alles rechtfertigte, was Menschen taten.

Die blutrote Sonne trat schärfer hervor, und nun wurden die Umrisse von Männern und Pferden erkennbar, als die Nordland-Armee wieder auftauchte, ein Schachbrett von exakt ausgerichteten Kolonnen auf dem ganzen Schlachtfeld, von den vo rdersten Schanzen auf der Klippe bis zu den verkohlten Überresten zweier Belagerungstürme. Man bewegte sich nicht, man sagte nichts. Man wartete nur. Höndel begriff, was sich abspielte, und flüsterte Balinor hastig etwas zu. Der Befehlshaber der Legion schickte sofort Meldegänger zu seinen Untergebenen auf den Wällen, um sie zu warnen.

Menion wollte gerade fragen, was eigentlich im Gange sei, als sich plötzlich auf der Klippe unmittelbar unter den Stadttoren etwas regte. Ein einzelner gepanzerter Krieger trat langsam aus dem Zwielicht hervor, hochgewachsen, aufrecht, und blieb vor der Riesenmauer stehen. In einer Hand hielt er eine lange Stange mit einem roten Wimpel. Er stieß die Stange in die Erde, dann trat er zurück, drehte sich um und kehrte zu seinen Reihen zurück. Wieder blieb es völlig still. Kurze Zeit danach hallte der langgezogene, klagende Ton eines fernen Horns traurig über die Ebene - einmal, zweimal, ein drittes Mal. Wieder Stille.

»Die Totenwache«, flüsterte Höndel. »Das bedeutet, dass sie keinen Pardon geben. Sie wollen uns alle töten.«

Plötzlich wurde die Stille vom Dröhnen der Kriegstrommeln zerrissen, und die ganze Armee setzte sich in Bewegung. Tausende von Gnomen-Pfeilen verdunkelten den Himmel und regneten auf die Stadtmauern hinab. Speere, Piken und Streitkolben flogen. Aus dem Dunst über der Ebene tauchte der Umriss des letzten Belagerungsturms auf, ächzend und knarrend unter seinem eigenen Riesengewicht, gezogen von Hunderten von Soldaten, hinauf über die neuerbaute Rampe, bis hin zur Außenmauer. Aus der Stadt schössen die Bogenschützen der Legion auf die anstürmenden Angreifer, während die anderen Legionäre an den Brustwehren lauerten und auf Balinors Befehle warteten.

Der König von Callahorn wartete, bis der massive Belagerungsturm ganz nahe an die Mauer herangekommen war. Schon versuchte der Feind, das große Hindernis mit Wurfankern und Sturmleitern zu erklimmen, und die Mauerfassade war übersät mit sich anklammernden Gestalten, die vergeblich die Krone zu erreichen suchten. Schlagartig ergoss sich der Inhalt riesiger Kessel von der Mauer; das öl überschüttete Menschen und Maschine und die ganze Klippenwand. Brennende Fackeln folgten, und augenblicklich war die ganze Angriffsfront der Nordland-Armee in ein Flammenmeer getaucht. Belagerungsturm und Soldaten verschwanden einfach, als der schwarze Rauch in dichten Wolken emporquoll und den Blicken der Verteidiger das grausige Schauspiel entzog; nur die qualvollen Schreie der von den Flammen erfassten Männer waren zu hören. Die Angreifer, die versucht hatten, die Außenmauer zu ersteigen, saßen in der Falle. Einzelnen gelang es, die Brustwehr zu erreichen, wo sie schnell getötet wurden, aber die meisten verloren einfach den Halt oder wurden vom dichten Rauch ihrer Sinne beraubt, so dass sie ohne weiteres ins Feuer stürzten.

Binnen Minuten war der Angriff abgewehrt, und wieder entschwand das ganze Nordland-Heer dem Blick. Die Männer auf den Wällen starrten angestrengt in den wirbelnden Rauch und versuchten vergeblich zu entdecken, welcher Art der nächste Angriff sein mochte. Balinor sah seine Begleiter an und schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Das war Wahnsinn. Sie müssen doch gewusst haben, was geschehen würde und sie haben es trotzdem versucht. Sind sie toll geworden?«

»Vielleicht wollten sie uns ablenken«, murmelte Höndel. »Mit der Rauchwand, die wir ihnen geliefert haben.«

»So viele Tote, nur um sich einzunebeln?« rief Menion ungläubig.

»Wenn es so wäre, müssen sie etwas ganz Besonderes im Schild führen, von dem sie überzeugt sind, dass es nicht fehlschlagen kann«, erklärte Balinor. »Behaltet hier alles im Auge. Ich gehe zum Tor.« Er wandte sich ab und lief die steinerne Wendeltreppe hinunter. Die anderen sahen ihm stumm nach und kehrten sich wieder der Brustwehr zu. Vor ihnen quollen noch immer dichte Rauchwolken zum Himmel; das Öl loderte nach wie vor. Die Todesschreie waren verstummt, es war seltsam still geworden.

»Was haben sie vor?« fragte Menion nach einer Weile.

Es blieb geraume Zeit still.

»Wenn wir nur Stenmin erwischt hätten«, murmelte Durin schließlich. »Ich fühle mich nicht einmal hinter diesen Mauern sicher, solange dieser Wahnsinnige in der Stadt frei herumläuft.«

»Wir hatten ihn beinahe schon«, sagte Dayel. »Wir sind ihm in dieses Zimmer gefolgt, aber er schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Es muss einen Geheimgang haben.«

Durin nickte, und das Gespräch geriet wieder ins Stocken. Menion starrte in den Rauch und dachte an Shirl, die im Palast auf ihn wartete, an Shea, Flick, seinen Vater und seine Heimat - die Bilder zogen blitzschnell an seinem inneren Auge vorbei. Wie würde das alles enden?

»Bei den Schatten!« Höndel riss ihn so ruckartig herum, dass er erschrak. »Ich bin ein Schwachkopf. Dabei lag das so nahe. Ein Geheimgang! Im Keller des Palastes, unter den Weinkellern, in den Verliesen, die so viele Jahre hindurch abgeschlossen waren - ein Gang, der durch den Berg zur Ebene führt. Der alte König hat vor vielen Jahren in meiner Gegenwart einmal davon gesprochen. Stenmin scheint ihn zu kennen.«

»Ein Schleichweg in die Stadt!« rief Menion. »Sie könnten uns in die Zange nehmen!« Er hielt den Atem an. »Höndel! Shirl ist im Palast!«

»Wir haben nicht viel Zeit.« Höndel war schon auf der Treppe. »Menion, kommt mit. Dayel, sucht Janus Senpre und sagt ihm, er soll sofort Verstärkung zum Palast schicken. Durin, versucht Balinor zu finden und ihn zu warnen. Beeilt euch. Wir wollen hoffen, dass es noch nicht zu spät ist.«

Sie stürmten die Treppe hinunter und rasten über den Platz vor den Kasernen, stießen Soldaten beiseite, hetzten weiter auf das Tor zu, das in die innere Stadt führte. Zu langsam! schrie eine Stimme in Menion. Er riss Höndel fast von den Beinen, um ihn zu einer kleinen Gruppe von angebundenen Reservepferden zu steuern, die er zu seiner Rechten entdeckt hatte. Er schleuderte einen Soldaten beiseite, der ihm in den Weg treten wollte, und die beiden Männer sprangen in die Sättel und lenkten die Pferde zur Stadt, galoppierten durch das offene Tor, vorbei an den verblüfften Wachen, vorbei an Reserveeinheiten, die hier auf ihren Einsatz warteten, und rasten auf den Palast zu, so schnell die Gäule laufen konnten.

Alles, was danach kam, schien in einem Vakuum von Zeit und Raum stattzufinden. Menschen und Gebäude flogen an ihnen verschwommen vorbei, als die beiden Reiter über das uralte Pflaster der Hauptstraße fegten, dann tauchte die Brücke von Sendic auf, die den Volkspark überspannte und zum Palast der Buckhannahs führte. Ein Trosszug stob wild auseinander, als die beiden Reiter vorbeiflogen und ihre Pferde über den steinernen Brückenbogen zum offenen Palasttor trieben. Höndel und Menion sprengten in den von Gärten eingefassten Vorhof, brachten die schwitzenden Pferde zum Stehen und sprangen aus den Sätteln.