Der Hochländer drehte ihm den Rücken zu, immer noch über den Zwerg gebeugt. Auf Stenmins Stirn bildeten sich Schweißtröpfchen, und die dünnen Lippen kräuselten sich bösartig - aber die Furcht trieb ihn weiter. Er würde bald frei sein. Nur noch ein paar Schritte. Die Stadt war dem Untergang geweiht. Alle Einwohner würden sterben - alle seine Feinde. Er aber würde überleben. Er musste sich zwingen, nicht laut aufzulachen. Seine Hand berührte die Treppe, ein Fuß folgte; der Hochländer war nur einen Meter entfernt, noch immer ahnungslos, die Kellertür stand offen und war nicht bewacht. Freiheit! Nur noch ein Schritt. . .
Da fuhr Menion herum. Stenmin stieß einen Ent setzensschrei aus, als er das unheimliche Gesicht des Prinzen sah. Der Mystiker versuchte verzweifelt, die Treppe hinaufzustürmen, stolperte in den langen, roten Gewändern über die eigenen Beine.
Er kam nur einige Schritte weit, als Menion ihn einholte.
An den Mauern von Tyrsis geschah das Unmögliche. Nachdem Balinor von der Brustwehr des Außenwalls heruntergestiegen war, hatte er sich sofort zum massiven Stadttor begeben. Die Wachen der Legion, die dort stationiert waren, nahmen stramme Haltung an. Alles schien in Ordnung zu sein. Die vom Torhaus aus bedienten Riegelbolzen waren alle an ihren Plätzen. Die mächtige Eisenstange, die als zusätzliche Sicherung diente, lag quer über den beiden eisernen Torflügeln in ihren Befestigungen. Balinor starrte nachdenklich auf die Mauer, von Zweifeln beschlichen. Irgend etwas stand bevor, er konnte es fühlen. Das Tor war der Schlüssel zur Stadt, der einzige wunde Punkt in der sonst undurchdringlichen Steinmauer um Tyrsis. Belagerungstürme, Wurfanker, Sturmleitern - alle diese Geräte reichten nicht aus, den großen Wall zu erstürmen, und der Dämonen-Lord musste das wissen. Das Tor war der Schlüssel.
Balinors Blick glitt hinauf zum Torhaus auf dem Turm, einem gedrungenen, fensterlosen Bauwerk mit dem Mechanismus für die Innenverschlüsse. Zwei Legionäre standen wachsam an der Tür. Eine ausgesuchte Abteilung hatte den Auftrag erhalten, den lebenswichtigen Mechanismus zu schützen, Männer, die Balinor selbst ausgewählt hatte, unter dem Kommando von Hauptmann Sheelon. Zu beiden Seiten des kleinen Bauwerks verteidigten die Männer der Legion die Wälle. Es schien kaum möglich zu sein, dass die Nordländer damit rechneten, das Torhaus erobern zu können. Trotzdem ...
Schon war Balinor zu der schmalen Treppe gegangen, die in den Turm führte, und stieg die Stufen hinauf. Plötzliche Schreie von der Mauerkrone lenkten seine Aufmerksamkeit kurz ab, und er blieb stehen, als Tausende von Bogensehnen sirrten und ein Hagel von Pfeilen auf die Mauer niederging. Balinor hetzte hinauf. Er starrte an der Klippenwand hinunter, sah Leichen, zerstörte Geräte und kleine Brände. Die Nordländer hatten vorübergehend den direkten Angriff eingestellt. Statt dessen überschütteten lange Reihen von Bogenschützen die Verteidiger mit Pfeilen.
Der Grund für diese Taktik war schnell erkennbar. Am Rand der Klippe schob ein Trupp schwer gepanzerter Berg-Trolle einen mächtigen, schweren Rammbock heran, der oben und an den Seiten geschützt war durch Eisenblech. Während die Grenzlegion vom Feuer der Bogenschützen niedergehalten wurde, gedachten die riesigen Trolle den gewaltigen Rammbock vor das Stadttor zu bringen und es zu sprengen.
Auf den ersten Blick erschien der Plan unsinnig. Wenn das Torhaus dem Gegner jedoch in die Hände fiel, konnten die inneren Riegel geöffnet werden, und nur die lange, eiserne Querstange würde das Tor noch geschlossen halten. Sie allein konnte aber dem Rammbock nicht standhalten. Balinor lief auf das kleine Torhaus zu. Die Wachen beobachteten ihn. Er blickte sie im Vorbeigehen an und streckte die Hand nach der Türklinke aus. Sheelon war nirgends zu sehen. Die Tür öffnete sich nach innen, und er hatte einen Schritt in den Raum hineingetan, als ihm klar wurde, dass er keinen der beiden Wachtposten je zuvor gesehen hatte.
Balinor reagierte instinktiv, sprang zur Seite, als der Wachtposten auf ihn zustürzte, packte die ausgestreckte Lanze und entriss sie dem Angreifer. Mit dem Rücken an der Wand hatte der König nur einen kurzen Augenblick Zeit, einen Blick in den trüb erleuchteten Raum zu werfen. Die Leichen von Sheelon und seinen Leuten lagen in einer Ecke, zusammengekrümmt im Tod, ohne Rüstung und Kleidung. Aus den Schatten an der Rückseite des Raumes stürzte eine Gruppe gesichtsloser Angreifer auf Balinor zu, Dolche in den erhobenen Fäusten. Balinor schleuderte ihnen die Lanze entgegen und sprang zum Ausgang, aber der zweite Posten, der vor der Tür geblieben war, sah ihn kommen und stieß die Tür von der anderen Seite her zu. Der König vermochte sich den Weg nach draußen nicht mehr zu bahnen. Er saß in der Falle. Es blieb ihm gerade noch Zeit, das Breitschwert zu ziehen, bevor sich die anderen auf ihn stürzten. Sie rissen ihn zu Boden, aber die Dolchklingen glitten an seinem Kettenpanzer ab, der ihm schon so oft das Leben gerettet hatte. Balinor bäumte sich auf, schüttelte die Gegner ab und kam wieder auf die Beine. Im trüben Licht waren die Angreifer nur Schatten, aber seine Augen passten sich dem Halbdunkel an, und er hieb auf sie ein, als sie erneut über ihn herfielen. Zwei von den dunklen Gestalten kreischten auf und stürzten leblos zu Boden, als die mächtige Klinge sie traf, aber ihre Begleiter hatten das Schwert schon unterlaufen und warfen sich nun wieder auf den König.
Zum zweitenmal wurde Balinor niedergerungen, doch wieder befreite er sich, und der Kampf wogte in dem kleinen Raum hin und her. Der Lärm des Angriffs auf die große Mauer übertönte von draußen die Geräusche im Torhaus. Balinor wusste, dass er mit keiner Hilfe rechnen konnte, wenn es ihm nicht gelang, das Freie zu gewinnen. Er stellte sich wieder an die Wand und schwang das große Schwert, bedrängt von den Gegnern. Drei waren tot, mehrere verwundet, aber die übrigen Männer begannen ihn durch ihre ständigen Attacken zu ermüden. Er musste rasch entkommen. Dann tönte ein lautes Knirschen von Zahnrädern und Gestängen durch das Torhaus, und er begriff entsetzt, dass jemand die Innenverriegelung des Hauptportals öffnete. Er stürzte vorwärts, um zum Sperrmechanismus zu gelangen, aber die Gegner versperrten ihm den Weg und er wurde dazu gezwungen, sich im Halbkreis von seinem Ziel abzusetzen. Einen Augenblick später kreischte Metall auf Metall, und man hörte schwere Hammerschläge. Die Feinde versuchten, die Sperrhebel zu blockieren. Balinor ließ alle Vorsicht fahren und stürzte sich auf die Gegner.
Dann wurde die Tür aufgerissen, und die Leiche des verräterischen Wachtpostens flog herein. Graues Licht flutete in den Raum, und die schlanke Gestalt Durins tauchte neben seinem Freund auf. In grimmigem Schweigen hieben sie auf die verbliebenen Gegner ein, trieben sie fort vom Sperrmechanismus, versperrten ihnen den Weg zur Tür und machten sie in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes nieder. Ohne einen zweiten Blick auf die Toten zu werfen, stürmte der blutbefleckte König zum beschädigten Mechanismus und starrte wutentbrannt das Gewirr von Hebeln und Zahnstangen an. Aufgebracht warf er sich gegen den Haupthebel, der sich aber nicht bewegte. Durin wurde blass, als er begriff, was geschehen war.
»Wir haben nicht genug Zeit!« schrie Balinor, verzweifelt an den verklemmten Hebeln zerrend.
Ein dröhnendes Krachen hallte durch das Gebäude, ließ die Wände erzittern und den Boden erbeben.
»Das Tor!« rief Durin entsetzt.
Ein zweites Krachen erschütterte das Torhaus, ein drittes. Draußen scharrten Stiefel, einen Augenblick später erschien Messalines dunkles Gesicht in der Tür. Er wollte etwas sagen, aber Balinor erteilte bereits Befehle.
»Lasst den Raum säubern! Unsere Maschinisten sollen versuchen, den Mechanismus wieder in Gang zu bringen. Die Verriegelung ist gelöst und verklemmt. Verstärkt die Torflügel mit Holzstämmen und stellt Euer bestes Regiment fünfzig Schritte dahinter zu beiden Seiten auf! Die Nordländer dürfen nicht durchkommen. Setzt zwei Reihen Bogenschützen an der Innenmauer ein, um den Torzugang zu verteidigen. Die Reserven und die Stadtgarnison werden die Innenmauer verteidigen. Alle anderen bleiben, wo sie sind. Wir halten die Außenmauer, solange wir können. Wenn sie fällt, zieht die Legion sich auf die zweite Linie zurück und hält sie. Wird auch diese überrannt, verschanzen wir uns an der Brücke von Sendic. Das wird die letzte Abwehrlinie sein. Sonst noch etwas?«