Der Nachmittagshimmel war plötzlich schwarz geworden, und über die feindlichen Reihen legte sich eine unheimliche Stille. Irgendwo in der brennenden Stadt hörte Menion das Schreien eines kleinen Kindes. Dayel spürte, wie der kalte Nordwind seufzend erstarb. Die Riesen-Trolle vor ihnen ordneten sich zur Kampfformation, die mächtigen Streitkolben locker in den Händen, dann setzten sie sich schwerfällig in Bewegung. Mitten auf der Brücke bereitete sich das letzte Verteidigungsaufgebot der Stadt auf den Ansturm der Feinde vor.
Auf dem Hügelkamm westlich der Stadt verfolgten Flick Ohmsford und der kleine Trupp Elfen-Reiter hilflos die Zerstörung von Tyrsis. Flick, der zwischen Eventine und Jon Lin Sandor auf seinem Pferd saß, sah seine letzte Hoffnung schwinden, als die Horden der gigantischen Nordland-Armee ungehindert durch die Breschen der Außenmauer strömten. Wolken aus schwarzem Rauch stiegen über Tyrsis auf, die letzten Überreste der einstmals stolzen Grenzlegion waren von den Wällen vertrieben. Der Widerstand der Stadt war gebrochen. Flick sah entsetzt, wie die grotesken Gestalten der Schädelträger deutlich sichtbar über dem vorrückenden Feind schwebten, die schwarzen Schwingen vor dem sich verdunkelnden Himmel weit gespreizt. Das Schlimmste, was Allanon vorausgesehen hatte, wurde Wirklichkeit. Der Dämonen-Lord hatte gesiegt.
Dann stieß ein Reiter zu seiner Linken einen Schrei aus, und Eventines gerötetes Gesicht huschte vorbei, als der Elfen-König sein Pferd antrieb und in seiner Ungeduld den Talbewohner wegstieß. Auf dem weiten Grasland, noch immer viele Meilen entfernt, erschien vor dem grauen Horizont eine dunkle Linie. Dumpf dröhnendes Hufgetrappel schwoll langsam an und vermischte sich mit dem Lärm der Schlacht.
Die dunkle Linie näherte sich rasch, vergrößerte sich schnell, und plötzlich wurden daraus Reiter, Tausende von Reitern mit Bannern und Lanzen. Der hallende Ton eines Kriegshorns kündigte ihr Herannahen an. Der kleine Trupp Elfen begann zu jubeln, als die riesige berittene Streitmacht die Ebene überschwemmte, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf Tyrsis zustürmend. Aufmerksam geworden, hatte die Nachhut des Nordland-Heeres schon seine Reihen geschlossen und sich der herannahenden Flut zugewandt. Es war die Elfen-Armee, endlich eingetroffen, eingetroffen zur Verteidigung von Tyrsis, zum Beistand für die belagerten Nationen der drei Länder, zur Rettung von allem, das zu bewahren die Menschheit so große Anstrengungen über Jahrhunderte hinweg unternommen hatte. Eingetroffen vielleicht zu spät.
33
Mit einer einzigen, blitzschnellen Bewegung zog Shea die uralte Klinge aus der verbeulten Scheide. Das Metall schimmerte im trüben Fackellicht bläulich-schwarz, die Eisenklinge makellos, als sei das legendäre Schwert im Kampf nie gebraucht worden. Das Schwert war unerwartet leicht, eine schmale, ausbalancierte Klinge von überragender Kunstfertigkeit, der Knauf verziert mit der erhobenen Hand, in der eine Fackel loderte. Shea hielt die Waffe fest umklammert, warf entschlossene Blicke auf Panamon Creel und Keltset, suchte nach Bestätigung, fürchtete sich plötzlich vor dem, was geschehen würde. Seine grimmig blickenden Begleiter regten sich nicht, ihre Gesichter wirkten leer und ausdruckslos. Er packte das Schwert nun mit beiden Händen und schwang die Klinge herum, bis sie zum Himmel zeigte. Seine Handflächen schwitzten, und er spürte, wie ein kalter Schauer über seinen Körper rann. Auf einer Seite regte sich etwas, und Orlranes Lippen entrang sich ein schwaches Stöhnen. Sekunden vergingen. Shea war sich der Knaufverzierung bewusst, die sich in die Innenflächen seiner zitternden Hände drückte. Noch immer geschah nichts.
Im grauen Zwielicht der leeren Kammer auf dem Gipfel des Totenschädelberges waren die dunklen Wasser des Steinbeckens ruhig und glatt. Die Macht des Dämonen-Lords ruhte ...
Schlagartig erwärmte sich das Schwert von Shannara in Sheas Händen, und eine sonderbare, pulsierende Hitzewelle übertrug sich vom dunklen Stahl auf die Handflächen des erstaunten Talbewohners, um sich gleich darauf wieder aufzuheben. Verblüfft trat er einen Schritt zurück und senkte die Klinge ein wenig. Einen Augenblick später folgte der Wärme ein Prickeln, das auch von der Waffe in seinen Körper überging. Obwohl es nicht mit Schmerzen verbunden war, zuckte Shea erschrocken zusammen, und er spürte, wie sich seine Muskeln verkrampften. Instinktiv wollte er das Schwert loslassen. Zu seiner Verwunderung war er dazu nicht mehr imstande. Irgend etwas tief in seinem Innersten untersagte es ihm, und seine Hände schlössen sich fest um den alten Knauf.
Das Prickeln lief durch seinen ganzen Körper, und er wurde sich einer Reaktion bewusst, die in einem Energiestrom bestand, wurzelnd in seiner Lebenskraft; er übertrug sich aus ihm auf das kalte Metall des Schwertes, bis die Waffe zu einem Teil seines Selbst geworden war. Die Vergoldung über dem Knauf löste sich unter den Händen des Talbewohners, und der Knauf wurde zu poliertem Silber, durchschossen von rötlichen Lichtstreifen, die im grellschimmernden Metall wie Lebewesen loderten und tanzten. Shea spürte die ersten Regungen einer Kraft, die im Erwachen begriffen war, etwas, das einen Teil von ihm bildete und doch allem fremd war, was er in sich ahnte. Es zerrte an ihm, verstohlen und doch entschlossen, zog ihn tiefer in sich selbst hinein.
Panamon Creel und Keltset, einige Schritte von Shea entfernt, verfolgten mit wachsender Besorgnis, dass der kleine Talbewohner in Trance zu geraten schien. Seine Lider sanken herab, sein Atem verlangsamte sich, seine Gestalt wurde im trüben Fackelschein zu einer Statue. Er hielt das Schwert von Shannara mit beiden Händen vor sich hoch. Die Klinge ragte auf, wies zum Himmel, der Glanz des Silberknaufs wurde beinahe unerträglich grell. Einen Augenblick lang überlegte Panamon Creel, ob er den Talbewohner packen und wachrütteln sollte, aber irgend etwas hielt den Dieb davon ab. Aus den Schatten kroch Orl Fane auf dem glatten, feuchten Boden heran, seinem kostbaren Schwert entgegen. Panamon zögerte einen Augenblick, dann stieß er ihn mit der Stiefelspitze zurück.
Shea fühlte, wie er nach innen gesogen wurde, gleich einem Korken auf einem Wasserstrudel. Ringsumher begann alles zu verblassen. Wände, Decke und Boden der Zelle verblassten, dann die zusammengekauerte, winselnde Gestalt Orl Fanes; schließlich verschwanden sogar die Umrisse von Panamon und Keltset. Die seltsame, fremdartige Strömung schien ihn ganz zu erfassen, und er entdeckte, dass er sich ihr nicht zu widersetzen vermochte. Langsam wurde er in die tiefsten Schichten seines Wesens gezogen, bis alles Schwärze war.
... Ein Zittern lief über die stillen Beckengewässer in den Höhlentiefen an der Spitze des Totenkopfberges, und die angstvollen, kriechenden Wesen, die dem Meister dienten, huschten aus ihren Wand verstecken. Der Dämonen-Lord regte sich, aufgestört aus seinem Schlaf ...
In dem Wirbel aus Emotion und innerstem Ich, das die zentrale Region seines Wesens darstellte, trat der Träger des Schwertes von Shannara sich selbst gegenüber. Einen Augenblick lang herrschte ein Chaos unbestimmter Eindrücke, dann schien die Strömung sich umzukehren und ihn in einer ganz anderen Richtung fortzutragen. Bilder und Eindrücke tauchten vor ihm auf. Plötzlich vor seine Augen gehoben, lag die Welt, die sein Geburtsort, seine Lebensquelle war, von der Vergangenheit bis zur Gegenwart nackt und offen vor ihm, aller Illusionen entkleidet, und er sah die Wirklichkeit des Seins in ihrer ganzen Strenge. Keine sanften Träume färbten ihre Lebensschau, keine Wunschphantasien verhüllten die Unbarmherzigkeit ihrer selbstgewählten Entscheidungen, keine selbsterfundenen Visionen von Hoffnung milderten die Schärfe ihres Urteils. Inmitten ihrer ungeheuren Weite sah er sich als den armseligen, unbedeutenden Funken kurz aufleuchtenden Lebens, der er war.
Sheas Geist schien zu explodieren, und was er sah, lahmte ihn. Er rang verzweifelt um jene Erkenntnis von sich selbst, die ihn stets aufrechterhalten hatte, rang darum, sich an die Vernunft zu klammern, kämpfte, um sich vor dem furchterregenden Blick auf seine innere Nacktheit und die Schwäche des Wesens zu schützen, als das sich zu erkennen er gezwungen war.