Dann schien die Heftigkeit der Strömung ein wenig nachzulassen. Shea öffnete mühsam die Augen, um der inneren Vision für Sekunden zu entgehen. Vor ihm ragte das Schwert empor, gleißend in einem blendendweißen Licht, das von der Klinge zum Knauf herabflutete. Dahinter konnte er Panamon und Keltset sehen, regungslos, den Blick starr auf ihn gerichtet. Dann bewegten sich die Augen des Riesen-Trolls ein wenig und hafteten an dem Schwert. Darin lag ein seltsames Begreifen und Drängen, und als Shea auch wieder auf das Schwert von Shannara blickte, schien das Licht fiebrig zu pulsieren. Der Bewegung haftete etwas Ungeduldiges an, als wolle das Licht von der Klinge in seinen Körper dringen und sähe sich aufgehalten.
Der Talbewohner wehrte sich noch einen Augenblick länger gegen das Eindringen, dann schlössen sich seine Augen wieder, und die innere Vision kehrte zurück. Der erste Schock der Offenbarung war abgeklungen, und er strengte sich an, zu begreifen, was geschah. Er konzentrierte sich auf die Abbilder von Shea Ohmsford, tauchte ein in die Gedanken, Gefühle, Urteile und Motivationen, aus denen sein Charakter bestand, der gleichzeitig fremd und vertraut war.
Die Bilder nahmen eine erschreckende Schärfe an, und plötzlich sah er eine andere Seite seines Selbs t, eine Seite, die er nie hatte erkennen können - oder einfach nicht hatte akzeptieren wollen. Sie offenbarte sich in einer endlosen Reihe von Geschehnissen, allesamt Karikaturen der Erinnerungen, an die er so stark geglaubt hatte. Hier wurde Rechenschaft abgelegt über alles, was er anderen zugefügt, über jede kleinliche Eifersucht, die er je empfunden hatte, über seine tiefverwurzelten Vorurteile, seine bewussten Halbwahrheiten, sein Selbstmitleid, seine Ängste - alles, was in ihm dunkel und verborgen war. Hier war der Shea Ohmsford, der aus dem Tal geflüchtet war, nicht, um Familie und Freunde zu beschützen und zu retten, sondern aus Angst um sein eigenes Leben, auf der Suche nach irgendeiner Ausrede für seine Panik der Shea Ohmsford, der aus Eigensucht zugelassen hatte, dass Flick vom Alptraum mit betroffen wurde, damit die Qual sich vermindere. Hier war der Shea, der den Moralkodex von Panamon Creel verächtlich und hochmütig verdammt, gleichzeitig aber zugelassen hatte, dass der Dieb sein Leben riskierte, um Sheas Leben zu retten. Und hier ...
Die Bilder setzten sich endlos fort. Shea Ohmsford zuckte entsetzt vordem zurück, was er sah. Er konnte es nicht akzeptieren. Er konnte es niemals akzeptieren.
Aber sein Geist nährte sich aus einer inneren Quelle von Kraft und Verständnis, öffnete sich den Bildern, weitete sich, um sie zu umfassen, überredete - oder zwang ihn, die Wirklichkeit dessen anzuerkennen, was ihm gezeigt worden war. Er konnte diese andere Seite seines Charakters nicht wirklich leugnen; wie die dezimierte Abbildung der Person, für die er sich immer gehalten, war auch dies nur ein Teil des wahren Shea Ohmsford aber es war ein Teil von ihm, so schwer es ihm auch fallen mochte, das zuzugeben.
Aber er musste es zugeben. Es war die Wahrheit.
... Erfüllt von weißglühender Wut, erwachte der Dämonen-Lord vollends ...
Wahrheit? Shea öffnete wieder die Augen, um das Schwert von Shannara anzustarren, das von der Klinge bis zum Knauf gleißend leuchtete. Eine warme, pulsierende Empfindung breitete sich rasch in ihm aus; sie brachte keine neue Vision des Selbst, sondern nur eine tiefe, innere Bewusstwerdung.
Schlagartig begriff er, dass er das Geheimnis des Schwertes kannte. Das Schwert von Shannara besaß die Macht, die Wahrheit zu offenbaren - den Mann, der es ergriff, zu zwingen, die Wahrheit über sich selbst zu erkennen, vielleicht sogar, die Wahrheit über andere zu offenbaren, die mit dem Schwert in Berührung kommen mochten. Einen Augenblick lang brachte er es nicht über sich, an all diese Dinge zu glauben. Er zögerte bei seiner Analyse, versuchte verzweifelt, dieser unerwarteten Offenbarung nachzugehen - mehr zu finden, denn da musste einfach noch mehr sein. Aber es gab nichts anderes zu entdecken. Das war alles, was den gepriesenen Zauber des Schwertes ausmachte. Darüber hinaus stellte das Schwert nicht mehr dar, als es dem äußeren Anschein nach zu sein schien eine kunstvoll gefertigte Waffe aus einer anderen Zeit.
Die Erkenntnis, was das bedeutete, zuckte durch Sheas Geist und ließ ihn betäubt zurück. Kein Wunder, dass Allanon das Geheimnis des Schwertes nie preisgegeben hatte. Was für eine Waffe sollte das sein, gegen die unfassbare Macht des Dämonen-Lords? Welche Abwehr konnte sie gegen ein Wesen bieten, das mit wenig mehr als einem flüchtigen Gedanken ihm das Leben abzupressen vermochte? Mit eisiger Gewissheit erkannte Shea, dass er betrogen worden war. Die legendäre Macht des Schwertes war eine Lüge. Er spürte, wie die Panik in ihm aufstieg, und schloss die Augen, überrieselt von kalten Schauern. Die Schwärze um ihn begann heftig zu brodeln, bis er schwindlig wurde und das Bewusstsein zu verlieren drohte.
... Der Dämonen-Lord beobachtete und lauschte in der tristen, grauen Leere seines Felsrefugiums. Langsam legte sich seine Wut, und die nebelige Dunkelheit unter der Kapuze nickte befriedigt. Der Talbewohner, den er vernichtet geglaubt hatte, war noch am Leben. Trotz aller Widrigkeiten hatte er das Schwert gefunden. Aber der Mann war armselig schwach; das notwendige Wissen, um den Talisman zu begreifen, fehlte ihm. Er war von Angst schon überwältigt und würde verwundbar sein. Schnell und lautlos glitt der Meister aus dem Gewölbe ...
Die hochgewachsene Gestalt Allanons zögerte auf dem Kamm eines nackten, windumtosten Hügels. Die schwarzen Augen unter den buschigen Brauen waren unsichtbar, als sie den dräuenden, isolierten Bergzug betrachteten, der sich am grauen Nordhorizont erhob. Die hohlwangigen, genarbten und verwitterten Gesichter der Gipfel schienen ihn anzustarren, die Seele des Landes widerspiegelnd, das sie vor so langer Zeit hervorgebracht hatte. Tiefe Stille hing erwartungsvoll über der riesigen Wildnis des Nordlandes. Selbst die Hochgebirgswinde waren erstorben. Der Druide wickelte sich fester in seine schwarzen Gewänder und atmete tief ein. Ein Irrtum war nicht möglich; seine weitreichende Wahrnehmung belog ihn nicht. Das, was zu erreichen er sich so bemüht hatte, war geschehen. In den fernen Winkeln der Messerkante, noch weit von der Stelle, wo Allanon stand, hatte Shea Ohmsford das Schwert von Shannara gezückt.
Und doch war alles falsch! Obwohl der Talbewohner imstande sein mochte, standzuhalten, die Wahrheit über sich selbst hinzunehmen und das Geheimnis des Schwertes zu erkennen, war er noch immer nicht bereit, den Talisman auf die richtige Weise gegen den Dämonen-Lord einzusetzen. Es würde ihm nicht die Zeit bleiben, die notwendige Zuversicht zu gewinnen, solange er allein und ohne Hilfe war, des Wissens entblößt, das nur Allanon ihm vermitteln konnte. Er würde erfüllt sein von Selbstzweifeln, zerrissen von Angst, eine leichte Beute für Brona. Schon konnte der Druide das Erwachen des Feindes spüren. Der Schwarze Lord begann mit dem Abstieg von seinem Felsrefugium, voll Zu versicht, dass der Träger des Schwertes blind war für die ganze Macht des Talismans. Seine Attacke würde blitzschnell und rücksichtslos erfolgen, und Shea würde vernichtet sein, bevor er lernen konnte, zu überleben.
Nur kurze Minuten blieben noch bis zur Konfrontation, und Allanon wusste, dass er niemals mehr rechtzeitig zur Stelle sein konnte. Er hatte schließlich eingesehen, dass Shea und das Schwert von Shannara nach Norden geraten sein mussten. Die anderen in Callahorn zurücklassend, war er dem Talbewohner nachgeeilt, um ihm zur Seite zu stehen. Aber es war zu schnell gegangen. Nun gab es nur noch eine einzige Chance für ihn, Shea von Nutzen zu sein - eine ganz geringe -, und er war immer noch zu weit entfernt. Der Druide raffte seine Gewänder zusammen und eilte den Hang hinunter, mit den Füßen kleine Staubwolken aufwirbelnd, das Gesicht angespannt vor Entschlossenheit.
Panamon Creel wollte vortreten, als Shea auf ein Knie sank, aber Keltsets mächtiger Arm hielt ihn zurück. Der Troll hatte sich nach dem Höhleneingang umgedreht und lauschte. Panamon konnte nichts hören, aber plötzlich stiegen Angst und Entsetzen in ihm hoch. Er erstarrte. Keltsets Augen bewegten sich, als folgten sie einer Erscheinung im Korridor, der zur Zelle führte, und Panamons Furcht wurde größer.