»Ich kann es nicht erklären«, fuhr Balinor fort, »aber ich glaube, wir könnten in keiner besseren Gesellschaft sein, egal, vor welcher Gefahr wir stehen, sogar wenn wir dem Dämonen-Lord selbst gegenübertreten müßten. Ich kann es zwar nicht beweisen, bin aber gewiß, daß Allanons Macht alles übertrifft, was wir uns vorstellen können. Er wäre ein ungeheuer gefährlicher Feind.«
»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel«, sagte Flick trocken.
Nur Minuten danach ging die Tür auf, und Allanon trat heraus. Im bleichen Mondlicht wirkte er riesig und unheimlich, fast wie das Ebenbild der schrecklichen Totenschädelträger, die sie so fürchteten. Der schwarze Mantel blähte sich, als er auf sie zuging, das schmale Gesicht in den Tiefen der Kapuze verborgen. Sie blickten ihn stumm an und fragten sich, was er ihnen zu sagen haben und was das für die kommenden Tage bedeuten würde. Vielleicht kannte er instinktiv ihre Gedanken, aber ihre Augen vermochten in der undurchdringlichen Maske nichts zu entziffern. Sie sahen nur das Funkeln in seinen Augen, als er stehenblieb und sie der Reihe nach ansah.
»Es ist an der Zeit, daß ihr die ganze Geschichte um das Schwert von Shannara erfahrt, die Geschichte der Rassen, wie nur ich sie kenne.« Seine Stimme klang beschwörend. »Shea muß diese Dinge verstehen, das ist wichtig, und da ihr sein Schicksal mit ihm teilen wollt, habt ihr auch ein Anrecht darauf, alles zu hören. Was ihr heute erfahrt, muß aber unter uns bleiben, bis ich euch sage, daß es nicht mehr wichtig ist. Es wird schwer werden für euch, aber ihr müßt euch daran halten.
« Er winkte ihnen und entfernte sich, um sie tiefer unter die dunklen Bäume zu führen. Als sie einige hundert Meter zurückgelegt hatten, bog er in eine kleine, von außen kaum erkennbare Lichtung ein. Er setzte sich auf einen alten Baumstumpf und bedeutete den anderen, sich Plätze zu suchen.
Sie taten es hastig und warteten stumm.
»Vor sehr langer Zeit«, begann der Historiker schließlich mit bedächtiger Stimme, »vor den Großen Kriegen, vor dem Vorhandensein der Rassen, wie wir sie heute kennen, war das Land nur von Menschen bewohnt. Die Zivilisation hatte sich schon vorher über viele tausend Jahre hinweg entwickelt, in Jahren harter Arbeit und des Studiums, die den Menschen zu einem Punkt brachten, wo er im Begriff stand, die Geheimnisse des Lebens selbst zu meistern. Es war eine wunderbare, erregende Zeit, und vieles davon überstiege eure Fassungskraft, wenn ich ermächtigt wäre, euch ein vollständiges Bild zu geben. Aber trotz all seiner Bemühungen gelang es dem Menschen nie, seine überwältigende Faszination mit dem Tod zu unterdrücken. Er war eine ständige Alternative, selbst bei den zivilisiertesten Nationen. Seltsamerweise war der Auslöser jeder neuen Entdeckung das gleiche unaufhörliche Bestreben — die Verfolgung der Wissenschaft. Nicht der Wissenschaft, wie man sie heute kennt — nicht das Studium von Tier- und Pflanzenleben, der Erde und der einfachen Künste.
Das war eine Wissenschaft von Maschinen und Energie, die sich auf unendliche Bereiche der Forschung aufteilte, alle den gleichen zwei Zielen dienend — das Leben zu erleichtern und immer neue Methoden des Tötens zu ersinnen.« Er verstummte und lachte grimmig vor sich hin. »Sehr sonderbar, wenn man es bedenkt, daß der Mensch so viel Zeit dafür aufwendete, zwei derart verschiedene Ziele anzustreben. Selbst jetzt hat sich nichts geändert —- nach all den Jahren...« Seine Stimme verklang, und Shea warf einen Blick auf die anderen, aber sie starrten alle den Historiker an. »Wissenschaften physischer Macht!« sagte Allanon scharf. »Das waren die Mittel zu allen Zwecken dieser Zeit. Vor zweitausend Jahren waren die Leistungen der Menschheit in der Geschichte der Erde ohne Vergleich. Der uralte Feind des Menschen, der Tod, konnte nur noch jene zu sich rufen, die ihre natürliche Lebensspanne durchmessen hatten. Die Krankheiten waren praktisch ausgerottet, und wenn der Mensch noch mehr Zeit gehabt hätte, wäre es ihm sogar gelungen, das Leben zu verlängern.
Manche Philosophen behaupteten, die Geheimnisse des Lebens seien für Sterbliche verboten. Niemand hatte je das Gegenteil bewiesen. Das wäre vielleicht gelungen, aber ihre Zeit lief ab, und dieselben Elemente der Macht, die das Leben von Krankheit und Gebrechlichkeit befreit hatten, vernichteten es beinahe völlig. Die Großen Kriege begannen, entwickelten sich langsam aus kleineren Zwistigkeiten zwischen einigen Völkern und breiteten sich stetig aus, trotz der Erkenntnis dessen, was geschah — breiteten sich von Nebensächlichkeiten aus zum Urhaß: Rasse, Nationalität, Grenzen, Glaube... am Ende alles. Dann wurde plötzlich, so plötzlich, daß nur wenige wußten, was geschah, die ganze Welt von Vergeltungsangriffen der verschiedenen Länder überzogen, alle höchst wissenschaftlich geplant und ausgeführt. In wenigen Minuten gipfelte die Wissenschaft von Tausenden von Jahren, das Wissen von Jahrhunderten, in einer beinahe völligen Vernichtung des Lebens.« Er sah seine Zuhörer grimmig an. »Die Großen Kriege. Der Name ist sehr passend. Die in diesen wenigen Minuten des Kampfes aufgewendete Energie vermochte nicht nur diese Jahrtausende menschlicher Bemühungen auszulöschen, sie rief auch eine Reihe von Explosionen und Umwälzungen hervor, die das Land völlig veränderten.
Die entfesselte Kraft richtete den größten Schaden an, tötete jedes Lebewesen auf über neunzig Prozent der Erdoberfläche, aber die Nachwirkungen trugen die Veränderungen weiter, rissen die Kontinente auseinander, trockneten die Meere aus, machten Land und Meer für mehrere hundert Jahre unbewohnbar. Es hätte das Ende allen Lebens, vielleicht das Ende der Welt selbst sein können. Nur ein Wunder hat das verhindert.«
»Ich kann es nicht glauben«, stieß Shea hervor, und Allanon sah ihn mit spöttischem Lächeln an.
»Das ist deine Geschichte des zivilisierten Menschen, Shea«, murmelte er düster. »Aber was danach geschah, betrifft uns unmittelbar. Überreste der Menschheit vermochten in der entsetzlichen Zeit nach der Katastrophe zu überleben, in abgelegenen Teilen des Globus", gegen die Elemente um das Überleben ringend. Das war der Beginn der Entwicklung der Rassen, wie sie heute bestehen — Menschen, Zwerge, Gnome, Trolle, und, wie manche sagen, Elfen —, aber sie hat es immer schon gegeben, und diese Geschichte ist für ein andermal.«
Shea hätte ihn am liebsten unterbrochen und nach der Rasse der Elfen und seiner eigenen Herkunft gefragt, aber er wagte nicht, den grimmigen Mann zu stören, der fortfuhr:
»Einige Männer erinnerten sich an die Geheimnisse der Wissenschaften, die vor der Zerstörung der alten Welt ihr Leben gestaltet hatten. Nur wenige waren es. Die meisten waren kaum mehr als primitive Kreaturen, und die wenigen vermochten nur Bruchstücke zu bewahren. Aber sie hatten ihre Bücher gerettet, und diese konnten ihnen die meisten Geheimnisse der alten Wissenschaften verraten. Sie hielten sie in den ersten Jahrhunderten versteckt, ohne die Lehren anwenden zu können, und warteten auf die Zeit, in der das möglich sein würde. Sie lasen stattdessen ihre kostbaren Texte nur, und als die Bücher vor Alter zu zerfallen begannen und es keine Möglichkeit gab, sie zu erhalten oder abschreiben zu lassen, begannen die wenigen Männer, denen die Bücher gehörten, sich die Dinge zu merken. Die Jahre vergingen, und das Wissen wurde weitergereicht vom Vater auf den Sohn; jede Generation behielt das Wissen sicher in der Familie und schützte es vor jenen, die es nicht weise gebrauchen wollten, die eine Welt schaffen wollten, in der die Großen Kriege ein zweitesmal stattfinden konnten. Am Ende, selbst als es wieder möglich wurde, die Informationen aus diesen unersetzlichen Büchern erneut aufzuzeichnen, lehnten die Männer, die sich das Wissen eingeprägt hatten, es ab, das zu tun. Sie fürchteten immer noch die Folgen, hatten Angst voreinander und sogar vor sich selbst. Sie beschlossen deshalb, meist jeder für sich, auf die richtige Zeit zu warten, um ihr Wissen den aufstrebenden jungen Rassen anzubieten.