»Ich rieche auch Rauch«, sagte Shea, selbst erstaunt über seine Fähigkeiten.
Durin schnupperte eine Weile mit vorgestrecktem Kopf, ehe er meinte:
»Schwer zu sagen, aber sie scheinen ihn nicht nur an einer Stelle angezündet zu haben. Wenn es so ist, wird er binnen Minuten in Flammen stehen.«
Allanon zögerte einen Augenblick, dann bedeutete er ihnen, den Weg zum Noose-Paß fortzusetzen. Sie beschleunigten ihre Schritte, bemüht, die andere Seite der Falle zu erreichen.
Ein Brand in diesem ausgetrockneten Wald würde jeden Rückzugsweg abschneiden, sobald er einmal durch die Wipfel fegte. Die langen Schritte Allanons und Balinors zwangen Shea und Flick zu laufen, um nicht zurückzubleiben.
Einmal schrie Allanon Balinor etwas zu, und die breitschultrige Gestalt verschwand zwischen den Bäumen. Vor ihnen waren Menion und Höndel verschwunden, und von den Elfen-Brüdern waren nur mehr verschwommene Schatten zu sehen, die zwischen den Bäumen dahin huschten. Lediglich Allanon war deutlich erkennbar, einige Schritte hinter ihnen, und er trieb sie an. Wolken von weißem Rauch tauchten zwischen den dichtgedrängten Baumstämmen auf, einem undurchdringlichen Nebel gleichend, der den Weg einhüllte und die Atmung erschwerte. Vom Feuer selbst war noch immer nichts zu sehen. Die Flammen waren offenbar noch nicht hoch genug gezüngelt, um sich durch das Astgeflecht auszubreiten und ihnen den Weg zu versperren. Binnen Minuten war der Rauch überall, und Shea und Flick begannen heftig zu husten. Ihre Augen brannten von der Hitze und dem ätzenden Dunst. Plötzlich brachte Allanon sie zum Stehen. Er schaute sich um. Balinor tauchte aus dem Wald hinter ihnen auf, in seinen langen Mantel gehüllt.
»Ihr habt recht, sie sind hinter uns«, keuchte er. »Sie haben hinter uns den ganzen Wald angezündet. Sieht nach einer Falle aus, in der wir zum Noose-Paß getrieben werden sollen.«
»Bleibt bei ihnen«, befahl Allanon und deutete auf die angstvollen Talbewohner. »Ich muß die anderen einholen, bevor sie den Paß erreichen.«
Mit unglaublicher Schnelligkeit für einen so riesigen Mann hetzte Allanon davon und war im nächsten Augenblick zwischen den Bäumen verschwunden. Balinor bedeutete den Brüdern, ihm zu folgen, und sie schlugen dieselbe Richtung ein, im erstickenden Rauch um jeden Atemzug ringend. Dann hörten sie mit erschreckender Plötzlichkeit das scharfe Prasseln von brennendem Holz, und der Rauch wogte in riesigen, heißen Wolken vorbei. Das Feuer holte sie ein. In wenigen Minuten mußte es sie erreichen und bei lebendigem Leib verbrennen.
Krampfhaft hustend, stürzten die drei blindlings dahin, verzweifelt bemüht, dem Inferno zu entrinnen. Shea warf einen kurzen Blick nach oben und sah zu seinem Entsetzen die Flammen in allen Wipfeln der hohen Fichten züngeln.
Dann tauchte plötzlich durch Rauch und Wald die undurchdringliche Steinmauer der Felsen auf und Balinor winkte sie in diese Richtung. Minuten später, als sie sich an der Felswand entlang tasteten, sahen sie ihre Kameraden in einer Lichtung außerhalb der lodernden Bäume kauern. Vor ihnen lag ein offener Pfad, der sich zwischen den Klippen in den Fels hinaufschwang und im Noose-Paß verschwand. Die drei traten hastig zu den anderen, während der ganze Wald in Flammen aufging.
»Sie versuchen, uns vor die Wahl zu stellen, entweder im Wald zu verbrennen oder durch den Paß zu kommen«, überschrie Allanon das Tosen der Flammen. »Sie wissen, daß wir nur zwei Wege haben, stehen aber vor der gleichen Wahl und verlieren dadurch ihren Vorteil. Durin, lauft ein Stück auf den Paß zu und stellt fest, ob die Gnome einen Hinterhalt gelegt haben.«
Der Elf huschte davon, und sie sahen ihm nach, bis er zwischen den Felsen verschwunden war. Shea kauerte bei den anderen und wünschte sich, irgendetwas tun zu können.
»Die Gnome sind nicht dumm«, sagte Allanon scharf. »Die im Paß wissen, daß sie abgeschnitten sind von jenen, die den Wald angezündet haben, bis sie an uns vorbeikommen. Sie würden das Risiko, sich durch die Wolfsktaag-Berge zurückziehen zu müssen, nie eingehen. Entweder befindet sich eine große Streitmacht der Gnome im Paß, was Durin feststellen wird, oder sie haben etwas anderes im Sinn.«
»Was es auch ist, sie werden es vermutlich in dem Teil versuchen, der >Knoten< genannt wird«, sagte Höndel. »An dieser Stelle verengt sich der Weg so sehr, daß zwischen den überhängenden Felsen jeweils nur ein Mann hindurchschlüpfen kann.«
»Ich begreife nicht, wie sie uns aufhalten wollen«, meinte Balinor. »Die Felswände sind beinahe vertikal — niemand könnte sie ohne große Mühe erklimmen. Die Gnome hatten keine Zeit, dort hinaufzugelangen, seitdem sie uns entdeckt haben!«
Allanon nickte nachdenklich. Menion Leah flüsterte mit Balinor, dann verließ er die Gruppe und ging zum Paßzugang, wo die Klippenwände sich verengten. Er suchte den Boden ab. Die Hitze aus dem brennenden Wald war so stark geworden, daß sie sich tiefer in die Mündung des Passes zurückziehen mußten. Alles war noch verhüllt von den weißen Rauchwolken, die wie eine Mauer aus dem sterbenden Wald quollen und sich in der Luft nur zögernd auflösten. Lange Augenblicke vergingen, während die sechs die Rückkehr von Durin und Menion abwarteten. Der schlanke Hochländer richtete sich auf und kam zurück, Augenblicke später gefolgt von Durin.
»Im Paß waren Fußspuren zu sehen, aber nichts sonst«, meldete Durin. »Bis zum engsten Punkt ist offenbar alles unberührt. Ich bin nicht weitergegangen.«
»Da ist noch etwas«, warf Menion hastig ein. »Am Eingang zum Paß fand ich zwei deutlich unterscheidbare Reihen von Fußspuren, die hinein- und hinausführten. Gnomenspuren.«
»Sie müssen vor uns hineingeschlüpft und dann wieder herausgekommen sein, während wir hier herum tappten«, sagte Balinor aufgebracht. »Aber wenn sie vor uns dort gewesen sind, was...?«
»Wir erfahren es nicht, wenn wir hier sitzen und reden«, sagte Allanon scharf. »Das sind alles nur Vermutungen. Höndel, übernehmt mit dem Hochländer die Führung und paßt auf! Die anderen halten sich in der Reihenfolge wie bisher!«
Der stämmige Zwerg machte sich mit Menion auf den Weg, und sie guckten hinter jeden Felsblock an dem gewundenen Pfad, der sich im Paß verengte. Shea warf einen Blick nach hinten und stellte fest, daß Allanon zwar hinter ihm lief, Balinor aber nirgends mehr zu sehen war. Anscheinend hatte Allanon ihn erneut als Nachhut zurückgelassen, damit er auf lauernde Gnome achtete. Shea wußte, daß sie in einem Hinterhalt steckten, der ihnen von den verschlagenen Gnomen gelegt worden war und von dem sich bald zeigen würde, wie er aussah.
Der Pfad stieg die ersten hundert Meter steil an, wurde dann ebener und so schmal, daß zwischen den Felswänden jeweils nur für eine Person Platz war. Der Paß war nicht mehr als eine tiefe Nische im Fels, der überhing und in der Höhe fast zusammenwuchs. Nur ein schmaler Streifen vom blauen Himmel war über ihnen erkennbar und erhellte den von Felsblöcken übersäten Weg. Sie kamen nur noch langsam voran, als die Vorausgehenden nach einem Hinterhalt der Gnome suchten. Shea wußte nicht, wie weit Durin bei seinem Späziergang gekommen war, aber anscheinend hatte er sich nicht in den >Knoten< gewagt. Shea konnte sich vorstellen, wie es zu diesem Namen gekommen war. Die Enge des Durchgangs hinterließ den deutlichen Eindruck des Knotens einer Henkerschlinge.
Shea konnte Flicks keuchenden Atem in seinem Nacken spüren. Er empfand durch die Nähe der Felswände ein erstickendes Gefühl. Die Gruppe ging langsam weiter, ein wenig gebückt, um nicht an die messerscharfen Felsvorsprünge zu stoßen.
Plötzlich stockte die Kolonne, und sie drängten sich alle zusammen. Shea hörte hinter sich die tiefe Stimme Allanons zornig schimpfen. Allanon wollte wissen, was geschehen sei, und verlangte, nach vorn gelassen zu werden. Shea sah an der Spitze einen hellen Lichtausschnitt. Anscheinend weitete sich der Weg endlich. Aber gerade als Shea glaubte, den Noose-Paß hinter sich zu haben, hörte er Rufe. Menions Stimme tönte überrascht und zornig durch das Halbdunkel. Allanon fluchte und befahl weiterzugehen. Einen Augenblick lang rührte sich nichts, dann geriet die Kolonne wieder in Bewegung und schob sich langsam vorwärts, hinein in eine weite, von den Felswänden umgrenzte Fläche unter freiem Himmel.