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»Geht Ihr allein?« fragte Balinor.

»Ich glaube, es ist sicherer für uns alle, wenn ich allein gehe.

Ich bin nur in geringer Gefahr, und ihr habt jeden Mann nötig, wenn ihr wieder zu den Anar-Wäldern kommt. Die Gnomen werden alle Pässe bewachen, um dafür zu sorgen, daß ihr das Gebirge nicht lebend verlassen könnt. Höndel kann euch dort so gut führen wie ich, und ich werde versuchen, euch unterwegs wieder irgendwo zu treffen, bevor ihr die Ebenen erreicht.«

»Welche Route nehmt Ihr?« fragte der Zwerg.

»Der Jade-Paß bietet den besten Schutz. Ich markiere den Weg mit winzigen Stoffetzen — wie früher. Rot bedeutet Gefahr. Haltet euch an die weißen, und alles wird gutgehen. Nun aber weiter, solange es noch hell ist!«

Sie marschierten weiter durch das Wolfsktaag-Gebirge, bis die Sonne im Westen hinter den Bergen versank und man den Pfad nicht mehr genau sehen konnte. Die Nacht war mondlos, wenn auch die Sterne einen schwachen Schimmer über die schroffe Landschaft warfen. Sie lagerten unter einer hohen, gezackten Felswand, die sich wie eine riesige Klinge einige hundert Fuß hoch in den Nachthimmel erhob. Auf den offenen Seiten des Lagerplatzes standen hohe Fichten, die sie im Halbkreis umgaben, so daß sie gut geschützt waren. Sie aßen wieder kalte Speisen, noch immer nicht bereit, ein Feuer anzuzünden, von dem sie verraten worden wären. Höndel stellte die ganze Nacht über Wachen auf, und man wechselte sich für jeweils einige Stunden ab. Nach der Mahlzeit wurde kaum etwas gesprochen, man rollte sich in die Decken und schlief sofort ein.

Shea erbot sich, die erste Wache zu übernehmen, weil er seinen Beitrag zum Wohle der Gemeinschaft noch immer für zu gering hielt. Er begann nun zu begreifen, wie wichtig es war, das Schwert zurückzuholen, wie sehr die Bewohner der vier Länder darauf zum Schutz gegen den Dämonen-Lord angewiesen waren.

Allanon hatte sich wortlos hingelegt und war nach wenigen Sekunden eingeschlafen. Shea beobachtete ihn während seiner zweistündigen Wache immer wieder und zog sich zurück, als Durin ihn ablöste. Erst als Flick nach Mitternacht seinen Wachdienst antrat, regte sich die riesige Gestalt ihres Anführers.

Allanon stand auf, wickelte sich fester in den großen, schwarzen Mantel und blickte für einige Zeit auf die Schlafenden, bevor er sich ohne Wort und Geste abwandte und in nördlicher Richtung in der Dunkelheit des Waldes verschwand.

Allanon marschierte den ganzen Rest der Nacht hindurch ohne Pause zum Jade-Paß und zu den Ebenen im Westen.

Seine schwarze Gestalt glitt mit der Behendigkeit eines flüchtigen Schattens durch den stillen Wald. Seine Erscheinung schien körperlos zu sein und über das Leben kleinerer Wesen hinwegzuhuschen, die ihn kurz erblickten und wieder vergaßen.

Wieder dachte er über ihre Reise nach Paranor nach, grübelte und sann und fühlte sich seltsam hilflos im Angesicht dessen, was sicherlich der Untergang eines Zeitalters war. Die anderen errieten seine Rolle bei den Ereignissen nur in allem, was bevorstand und schon geschehen war, aber er allein war gezwungen, mit der Wahrheit hinter seinem eigenen Schicksal und dem ihrigen zu leben. Er murrte halblaut vor sich hin, verabscheute, was geschah, wußte aber, daß ihm kein anderer Weg offenstand.

Bei Tagesanbruch eilte er durch einen besonders dichten Wald, der sich mehrere Meilen weit über bergiges Gelände mit Felsbrocken und umgestürzten Baumstämmen erstreckte.

Er bemerkte sofort, daß dieser Teil des Waldes seltsam still war, als habe eine besondere Art von Tod ihre eisige Hand auf die Erde gelegt. Die Fährte hinter ihm war sorgfältig mit winzigen weißen Stoffstreifen gekennzeichnet. Er ging langsamer. Bis zu diesem Punkt hatte es nichts gegeben, was Besorgnis in ihm erregt hätte, aber nun meldete sich sein sechster Sinn in ihm, der ihn warnte, daß nicht alles so sei, wie es sich gehörte. Er erreichte eine Gabelung des Weges. Ein breiter, hindernisloser Pfad, der so aussah, als sei er früher eine richtige Straße gewesen, führte nach links, hinab in ein tiefes Tal, wie es den Anschein hatte. Man konnte es kaum erkennen, weil der Wald alles überwuchert hatte und nach einigen hundert Metern den Pfad allen Blicken entzog. Der zweite Weg verlief durch dichtes Unterholz. Nicht mehr als eine Person gleichzeitig vermochte sich dort hindurchzuwinden, wenn man den Weg nicht mit einer Axt oder einem schweren Hackmesser verbreiterte. Dieser schmale Durchlaß führte hinauf zu einem hohen Grat neben dem Jade-Paß.

Der hochgewachsene Mann erstarrte plötzlich, als er die Gegenwart eines anderen Wesens spürte, einer unbezweifelbar bösen Lebensform irgendwo tiefer auf dem Weg ins unsichtbare Tal. Er hörte kein Geräusch, keine Bewegung. Was immer es sein mochte, es wartete lieber unten auf dem Weg auf seine Opfer. Allanon riß hastig zwei Stoffstreifen ab, einen roten, einen weißen, markierte mit dem roten Fetzen den breiteren, ins Tal führenden Weg und mit dem weißen den schmaleren, der zum Grat führte. Dann lauschte er wieder, konnte die Gegenwart des Wesens auch spüren, aber keine Bewegung wahrnehmen. Die Kraft des Wesens war der seinen nicht gewachsen, aber sie konnte den Männern gefährlich werden, die ihm folgten. Er glitt lautlos über den schmalen Weg und verschwand im Dickicht. Fast eine Stunde verging, bevor das Wesen, das auf dem ins Tal führenden Weg lauerte, nachzusehen beschloß. Es war hochintelligent, eine Möglichkeit, die Allanon nicht bedacht hatte, und es wußte, daß jenes Wesen, das oben vorbeigekommen war, seine Gegenwart gespürt und eine andere Richtung eingeschlagen hatte. Er wußte ebensogut, daß der Mann viel größere Kräfte besaß als es selbst, darum lag es regungslos im Wald und wartete, bis er fort war. Nun hatte es lange genug gewartet. Minuten später starrte es auf die Gabelung, wo die beiden Stoffstreifen im Wind flatterten. Wie dumm solche Markierungen waren, dachte das Wesen verschlagen, und mit schwerfälligen Schritten bewegte es seine riesige, mißgestaltete Masse vorwärts.

Balinor hatte die letzte Wache, und als die ersten goldenen Strahlen über die Berge im Osten fluteten, weckte er die anderen aus ihrem friedlichen Schlaf. Sie standen hastig auf und schlangen ein Frühstück hinunter, während sie sich in der noch kühlen Luft des sonnigen Tages warmzuhalten versuchten.

Sie packten ihre Sachen und bereiteten ihren Abmarsch vor. Jemand fragte nach Allanon, und Flick erwiderte schläfrig, der Historiker sei kurz nach Mitternacht aufgebrochen, ohne ein Wort zu sagen. Niemand wunderte sich.

Eine halbe Stunde später war die Gruppe unterwegs nach Norden durch die Wälder des Wolfsktaag, in der gewohnten Reihenfolge. Höndel hatte seinen Platz allerdings dem erfahrenen Menion Leah überlassen, der sich mit der Gewandtheit einer großen Katze durch das Unterholz bewegte.

Höndel empfand einen gewissen Respekt für den Prinzen von Leah.

Mit der Zeit würde dieser als Waldläufer nicht zu übertreffen sein. Es bedurfte nur noch der Aneignung einiger Fertigkeiten, und dafür gedachte der schweigsame Zwerg zu sorgen.

Eine beunruhigende Einzelheit erweckte die Aufmerksamkeit Höndels, obwohl sie seinem Begleiter völlig entging.

Die Fährte zeigte keine Spuren des Mannes, der erst vor Stunden hier gegangen war. Obwohl Höndel den Boden sorgfältig absuchte, fand er nicht den Ansatz einer menschlichen Fußspur.

Die weißen Stoffstreifen tauchten regelmäßig auf, wie Allanon es versprochen hatte, aber von seinem Vorüberkommen war nichts mehr zu bemerken. Höndel kannte die Geschichten über den rätselhaften Wanderer und hatte gehört, daß er ungewöhnliche Kräfte besaß. Er wäre aber nie auf den Gedanken gekommen, der Mann sei in der Lage, seine Spur gänzlich verwischen zu können. Der Zwerg konnte es nicht begreifen, beschloß aber, das für sich zu behalten.