Der Dschungel hinter dem stämmigen Talbewohner barst mit einem donnernden Peitschen von Ästen und Strauchwerk auseinander. Aus seinem Versteck sprang ein graues, vielbeiniges Ungeheuer von monströser Größe, eine alptraumhafte Mutation von lebendem Fleisch und Maschine.
Krumme Beine hielten einen Körper aufrecht, der halb aus Metallplatten, halb aus behaartem Fleisch bestand. Ein insektenartiger Kopf schwankte auf einem Metallhals. Tentakel mit Stacheln wippten über zwei glühenden Augen und malmenden Kiefern, die gierig auf- und zuschnappten. Geschaffen von Menschen einer anderen Zeit, um die Bedürfnisse seiner Herren zu erfüllen, hatte es die sie vernichtende Katastrophe überlebt, war aber im Überleben und im Bewahren seines Jahrhunderte alten Daseins mit Metallteilen als Ersatz für seine zerfallende Form zu einem mißgestalteten Ungeheuer geworden — und schlimmer noch, zu einem Menschenfresser.
Es stürzte sich auf sein unglückliches Opfer, bevor jemand sich zu bewegen vermochte. Shea stand am nächsten, als das riesenhafte Ungeheuer mit einem Bein seinen Bruder traf, ihn zu Boden warf und dort festnagelte, während die malmenden Kiefer sich herabsenkten. Shea überlegte nicht lange; er brüllte auf und riß sein kurzes Jagdmesser heraus, um seinem Bruder zu Hilfe zu eilen. Das Wesen hatte sein bewußtloses Opfer gepackt, als seine Aufmerksamkeit auf den anderen Menschen gelenkt wurde, der wild heranstürzte. Es zögerte bei diesem unerwarteten Angriff und trat einen Schritt zurück, die hervorquellenden grünen Augen auf den winzigen Mann vor sich gerichtet.
»Shea, nicht!« schrie Menion entsetzt, als der Talbewohner verzweifelt auf eines der verkrümmten Glieder des Monstrums einstach. Aus den Tiefen des Riesenkörpers drang ein erbostes Fauchen, und das Wesen schlug mit einem Fuß nach Shea, um ihn zu Boden zu werfen. Shea sprang aber rechtzeitig zur Seite und hieb aus einer anderen Position mit seinem winzigen Messer auf das Ungeheuer ein. Vor den entsetzten Augen der anderen Reisenden stürmte der Alptraum aus dem Urwald mit wirbelnden Gliedern auf den Talbewohner zu. Gerade als Shea Flick packen wollte, um ihn in Sicherheit zu bringen, stieß ihn das Monster um, und für Sekunden verschwand alles in einer großen Staubwolke.
Es war so schnell gegangen, daß noch kein anderer Gelegenheit gefunden hatte einzugreifen. Höndel hatte ein Wesen von dieser Größe und Wildheit noch nie gesehen, ein Wesen, das offenbar seit unzähligen Jahren in diesem Gebirge lebte und auf unglückliche Opfer wartete. Der Zwerg war vom Schauplatz am weitesten entfernt, eilte den Talbewohnern aber sofort zu Hilfe. Nun reagierten auch die anderen. Als der Staub sich legte und den gräßlichen Schädel freigab, sirrten drei Bogensehnen gleichzeitig, und die Pfeile drangen tief und mit hörbarem Aufschlag in die schwarze, behaarte Masse.
Das Wesen krächzte wutentbrannt, richtete sich auf und suchte nach den neuen Angreifern.
Die Herausforderung blieb nicht unbeantwortet. Menion Leah ließ den Bogen fallen und riß das Schwert aus der Scheide, um es mit beiden Händen zu umklammern.
»Leah! Leah!« der Kriegsruf von tausend Jahren gellte auf, als der Prinz über die zerfallenden Fundamente hinwegstürzte und das Monster angriff. Balinor hatte sein eigenes Schwert herausgerissen und eilte dem Hochländer zu Hilfe.
Durin und Dayel feuerten eine Salve nach der anderen in den Schädel der Riesenbestie, die vor Wut aufheulte, mit den Vorderbeinen nach den Pfeilen tastete und sie von der dicken Haut abzustreifen versuchte. Menion erreichte das Scheusal vor Balinor und stieß sein Schwert in eines der Beine. Als das Ungeheuer sich aufbäumte und Menion wegstieß, erhielt es einen harten Schlag auf den Schädel; Höndels Keule hatte mit Wucht zugeschlagen. Eine Sekunde später stand Balinor mit gespreizten Beinen vor dem riesigen Wesen und trennte mit gewaltigen Hieben eines der Glieder ab. Die Bestie wehrte sich verzweifelt und versuchte erfolglos, einen der Angreifer zu Boden zu werfen und zu zerquetschen. Die drei Männer stießen ihre Kriegsrufe aus und hieben mit aller Macht auf das Ungeheuer ein. Sie griffen die ungeschützten Flanken an und lenkten das Ungetüm zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Durin und Dayel rückten näher und feuerten ununterbochen Pfeile auf das Riesenziel ab. Viele prallten von den Metallplatten ab, aber der Pfeilregen lenkte das erboste Wesen ab. Einmal erhielt Höndel einen so heftigen Schlag, daß er für einige Sekunden das Bewußtsein verlor, und der Gigant wollte ihm blitzschnell den Rest geben, aber Balinor setzte seine ganzen Kräfte ein und hieb so wild und erbarmungslos auf das Ungeheuer ein, daß dieses von dem am Boden liegenden Zwerg abließ und sich notgedrungen gegen Balinor wandte.
Schließlich wurde das rechte Auge des Ungeheuers durch einen der Pfeile Durins oder Dayels getroffen. Stark aus dem verletzten Auge blutend, wie aus einem Dutzend anderer, größerer Wunden ebenfalls schon, wußte das Monster, dass es den Kampf verloren hatte und sein Leben würde drangeben müssen, wenn es nicht sofort die Flucht ergriff. Es führte eine Scheinattacke gegen den nächsten Angreifer, fuhr plötzlich mit erstaunlicher Behendigkeit herum und stürmte zu seinem sicheren Versteck im Wald. Menion nahm kurz die Verfolgung auf, aber das Wesen war schneller und verschwand zwischen den riesigen Bäumen. Die fünf Retter kümmerten sich sofort um die beiden am Boden liegenden Brüder, die sich nicht bewegten. Höndel untersuchte sie. Sie hatten zahlreiche Wunden und Blutergüsse davongetragen, sich aber offenbar nichts gebrochen. Es war schwer zu sagen, ob sie innere Verletzungen erlitten hatten. Beide waren von dem Wesen gestochen worden, Flick am Nacken, Shea an der Schulter; die häßlichen, dunkelroten Stellen ließen erkennen, daß die Haut durchbohrt war. Gift! Die beiden Männer blieben ohne Bewußtsein, ihre Atmung war flach, ihre Haut blaß, fast grau.»Dagegen kann ich sie nicht behandeln«, sagte Höndel sorgenvoll.
»Wir müssen sie zu Allanon bringen. Er versteht etwas von diesen Dingen; wahrscheinlich könnte er ihnen helfen.«
»Sie liegen im Sterben, nicht wahr?« flüsterte Menion.
Höndel nickte bedrückt. Balinor übernahm sofort das Kommando, befahl Durin und Menion, Stangen für Tragbahren zu schlagen, während er und Höndel Matten vorbereiteten, um die Brüder hineinlegen zu können. Dayel hielt Wache für den Fall, daß das Wesen unerwartet noch einmal auf tauchen sollte. Fünf zehn Minuten später waren die Bahren fertig, die Bewußtlosen sorgfältig verschnürt und gegen die Kälte der bevorstehenden Nacht in Decken gehüllt. Die Gruppe war marschbereit. Höndel übernahm die Führung, während die anderen vier die Bahren trugen. Sie hasteten durch die Ruinen der toten Stadt und fanden nach wenigen Minuten einen Pfad, der aus dem versteckten Tal hinausführte.
Die grimmigen Gesichter des Zwerges und der Bahrenträger richteten sich in nutzlosem Zorn noch einmal auf die aus dem Wald ragenden Metallgerüste.
Sie verließen mit schnellen Schritten das Tal, stiegen die sanften Hänge der Bergkette hinauf, auf dem breiten, von Bäumen gesäumten Weg, und dachten nur an die Verwundeten, die sie schleppten. Die vertrauten Geräusche des Waldes kehrten wieder und zeigten an, daß die Gefahr im Tal gebannt war. Keiner von ihnen achtete darauf, außer Höndel, der automatisch alle Veränderungen registrierte. Er dachte verbittert an die Entscheidung, die sie in das Tal geführt hatte, fragte sich, was mit Allanon und seinen Markierungszeichen geschehen sein mochte. Er war sicher, daß der schwarze Wanderer Hinweise gegeben hatte, bevor er den Weg nach oben gewählt hatte, und er konnte sich nur vorstellen, daß vielleicht das Ungeheuer selbst sie entdeckt, ihren Sinn begriffen und sie entfernt hatte. Er schüttelte den Kopf über seine Dummheit und stapfte weiter.
Sie erreichten den Talrand und liefen weiter durch die Wälder, die sich in alle Richtungen erstreckten. Der Pfad wurde wieder schmal und zwang sie, mit den Bahren hintereinander zu gehen. Der Nachmittagshimmel färbte sich rot, der Tag ging zu Ende. Höndel schätzte, daß ihnen kaum noch eine Stunde Tageslicht blieb. Er wußte nicht, wie weit sie vom Jade-Paß noch entfernt waren, neigte aber zu der Annahme, daß es nicht mehr weit sein konnte. Sie wußten alle, daß sie nicht haltmachen würden, sobald es dunkel wurde, daß sie in dieser Nacht auf Schlaf verzichten mußten, wenn sie die Brüder retten wollten. Sie mußten Allanon schnell finden und die beiden Talbewohner behandeln lassen, bevor das Gift seine zerstörende Wirkung tat. Keiner äußerte etwas, niemand fand es notwendig, über die Sache zu sprechen. Es gab nur eine Wahl, und sie nahmen sie an.