Als die Sonne eine Stunde später im Westen hinter den Bergen versank, waren die Arme der Bahrenträger steif und gefühllos.
Balinor ordnete eine kurze Rast an, und die Männer sanken keuchend auf den Boden. Höndel überließ seine führende Position für die Nacht Dayel, der offenbar am meisten erschöpft war vom Schleppen der Bahre. Die Brüder waren nach wie vor bewußtlos, ihre Gesichter schimmerten aschfahl im verblassenden Licht und waren von dünnen kleinen Schweißtropfen bedeckt. Höndel tastete nach ihrem Puls und konnte in den schlaffen Armen nur noch schwache Lebenszeichen wahrnehmen. Menion lief neben der Gruppe auf und ab und drohte Rache gegen alles, was ihm in den Sinn kam.
Nach kurzen zehn Minuten wurde der Marsch fortgesetzt.
Die Sonne war untergegangen, und sie marschierten in der Dunkelheit, die nur vom Sternenlicht und einer ganz dünnen Mondsichel erhellt wurde. Auf dem gewundenen und unebenen Weg kamen sie nur langsam voran. Höndel hatte Dayels Platz an Flicks Tragbahre übernommen, während der Elf seine hochentwickelten Sinne benutzte, um in der Dunkelheit den Weg zu finden. Der Zwerg dachte wehmütig an die Stoffstreifen, die Allanon zu hinterlassen versprochen hatte. Unterwegs, während seine Arme die Last der Bahre noch nicht spürten, sah er beinahe zerstreut zu zwei hohen Gipfeln hinüber, die links von ihm aufragten. Es dauerte einige Minuten, bis er schlagartig begriff, daß er den Zugang zum Jade-Paß vor sich hatte.
Im selben Augenblick teilte Dayel den anderen mit, daß der Weg sich vor ihnen in drei Fortsetzungen teilte. Höndel erwiderte sofort, daß sie die linke Abzweigung zum Paß nehmen mußten. Ohne Pause liefen sie weiter. Der Weg führte sie hinaus aus den Bergen zu den beiden Gipfeln. Als sie erkannten, daß das Ziel nahe war, marschierten sie in ihrer Erleichterung schneller, mit neuer Kraft, genährt von der Erwartung, daß sie Allanon treffen würden. Shea und Flick lagen nicht mehr regungslos auf den Bahren, sondern begannen zu zucken und sich unter den festgeschnürten Decken hin- und her zu werfen. In den vergifteten Körpern fand ein Kampf statt zwischen dem zugreifenden Tod und dem starken Lebenswillen. Ihre Körper hatten die Abwehr noch nicht aufgegeben. Balinor wandte sich den anderen zu und sah, dass sie starr auf ein Licht blickten, das am schwarzen Horizont zwischen den beiden Gipfeln blinkte. Dann hörten ihre Ohren das ferne Geräusch eines dröhnenden Stampfens und ein Stimmengesumm aus der Richtung, in der das Licht leuchtete.
Balinor befahl weiterzumarschieren, aber er wies Dayel gleichzeitig an, vorauszueilen und die Augen offenzuhalten.
»Was ist das ?« fragte Menion.
»Aus dieser Entfernung bin ich nicht sicher«, erwiderte Durin. »Hört sich wie Trommeln und singende Männer an.«
»Gnome«, sagte Höndel düster.
Nach einer weiteren Stunde waren sie nahe genug, um zu erkennen, daß der Lichtschein von Hunderten kleiner Feuer herrührte und das Geräusch wirklich von Dutzenden von Trommeln und vielen, vielen singenden Männern stammte.
Die Laute waren inzwischen ohrenbetäubend laut geworden.
Die beiden Spitzen am Jade-Paß ragten vor ihnen auf wie Eingangssäulen. Wenn die singenden und trommelnden Leute Gnomen waren, würden sie in das mit einem Tabu belegte Land keine Posten schicken, dachte Balinor, also mußte ihre Gruppe einigermaßen in Sicherheit sein, bis sie den Paß erreichte. Das Dröhnen der Trommeln und der Gesang hallten durch den dunklen Wald. Wer hier den Paß blockierte, würde eine Weile bleiben. Kurze Zeit später hatte die Gruppe den Paßrand erreicht, gerade vor dem Feuerschein. Sie huschten ins Dunkel und berieten sich.
»Was geht da vor?« fragte Balinor sorgenvoll, als sie alle im Wald kauerten.
»Von hier aus schwer zu sagen, wenn man kein Hellseher ist«, brummte Höndel. »Der Gesang hört sich nach Gnomen an, aber die Worte sind nicht zu verstehen. Ich gehe am besten hin und sehe nach.«
»Lieber nicht«, sagte Durin. »Das ist eine Aufgabe für Elfen, nicht für einen Zwerg. Ich bin viel schneller und leiser als ihr und nehme jeden Wachtposten wahr.«
»Dann übernehme am besten ich das«, erklärte Dayel. »Ich bin kleiner, leichter und schneller als irgendeiner von euch. Bin gleich wieder zurück.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, verschwand er im Wald.
Durin fluchte leise vor sich hin, um die Sicherheit seines jungen Bruders fürchtend. Wenn im Jade-Paß wirklich Gnomen warteten, würden sie einen Elf, den sie entdeckten, sofort töten.
Höndel knirschte mit den Zähnen und lehnte sich an einen Baum. Shea begann sich wilder hin- und herzuwerfen, stöhnte und versuchte, die Decken abzustreifen. Flick verhielt sich ähnlich, nur weniger heftig. Menion und Durin wickelten die beiden enger in ihre Decken und zogen die Ledergurte fester. Das Stöhnen wurde fortgesetzt, aber angesichts des Lärms vom Lagerplatz brauchte man nicht zu befürchten, belauscht zu werden. Lange Minuten vergingen.
Endlich tauchte Dayel aus der Dunkelheit wieder auf.
»Sind es Gnomen?« fragte Höndel.
»Hunderte«, erwiderte Dayel dumpf. »Sie sitzen vor dem Paß, an Dutzenden von Lagerfeuern. Es muß irgendeine Zeremonie sein, der Art nach, wie sie ihre Trommeln schlagen und singen. Das Schlimmste ist, daß sie alle zum Paß blicken.
Unbeobachtet kann niemand hinein und hinaus.« Er verstummte und warf einen Blick auf die Bahren, bevor er sich Balinor wieder zuwandte. »Ich habe den ganzen Zugang und beide Seiten ausgespäht. Es gibt keinen Weg als den direkt durch die Gnomen. Sie haben uns in der Falle.«
12
Menion sprang auf, griff nach seinem Schwert und schwor, einen Weg freizukämpfen oder dabei zugrunde zu gehen.
Balinor versuchte, ihn zurückzuhalten oder wenigstens zu beschwichtigen, aber einige Minuten lang herrschte heller Aufruhr, als die anderen sich schreiend dem Schwur des Hochländers anschlössen. Höndel befragte den bestürzten Dayel genauer und gebot schließlich mit energischer Stimme Schweigen.
»Die Häuptlinge der Gnome sind da«, sagte er zu Balinor, dem es endlich gelungen war, Menion zum Zuhören zu bewegen.
»Sie haben alle Priester und Ältesten der umliegenden Dörfer geholt zu einer besonderen Zeremonie, die einmal in jedem Monat stattfindet. Sie kommen bei Sonnenuntergang und preisen ihre Götter dafür, sie vor dem Bösen des Wolfsktaag-Landes geschützt zu haben. Es wird die ganze Nacht dauern, und bis morgen früh wird unseren jungen Freunden nicht mehr zu helfen sein.«
»Wunderbare Wesen, diese Gnome!« stieß Menion hervor.
»Sie fürchten das Böse hier, tun sich aber mit dem Schädelreich zusammen. Ich weiß nicht, was ihr denkt, aber ich gebe nicht auf wegen ein paar schwachsinnigen Gnomen, die nutzlose Zaubersprüche singen.«
»Niemand gibt auf,Menion«, sagte Balinor hart. »Wir verlassen das Gebirge heute. Auf der Stelle!«
»Und wie wollt Ihr das machen?« fragte Höndel. »Mitten durch die Gnomen marschieren? Oder vielleicht fliegen wir hinaus?«
»Wartet!« sagte Menion plötzlich und beugte sich über den bewußtlosen Shea. Er suchte hastig in seiner Kleidung, bis er den Beutel mit den Elfensteinen gefunden hatte.
»Die Elfensteine helfen uns«, erklärte er und zeigte ihnen den Beutel.