»Hat er den Verstand verloren?« fragte Höndel ungläubig, als er den Hochländer einen Lederbeutel schwenken sah.
»Das wird nicht gehen, Menion«, sagte Balinor leise. »Der einzige, der die Macht hat, die Steine zu gebrauchen, ist Shea.
Außerdem hat mir Allanon einmal gesagt, daß sie nur gegen Dinge anwendbar sind, die keine Substanz haben, Gefahren, die den Sinn verwirren. Diese Gnome sind von Fleisch und Blut, nicht Wesen der Geisterwelt oder der Einbildung.«
»Ich weiß nicht, was Ihr meint, aber ich weiß, daß die Steine bei dem Wesen im Nebelsumpf gewirkt haben, und ich war dabei...« Menion verstummte und ließ den Beutel mit seinem kostbaren Inhalt sinken. »Was hat das alles für einen Zweck? Ihr habt sicher recht. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich sage.«
»Es muß einen Weg geben!« Durin trat vor. »Alles, was wir brauchen, ist ein Plan, der fünf Minuten die Aufmerksamkeit der Gnome von uns ablenkt, und wir könnten vorbeischlüpfen.«
Menion merkte auf, aber es fiel ihm nichts ein, was geeignet gewesen wäre, die Wachsamkeit von einigen tausend Gnomen abzulenken.
Balinor ging ein paar Minuten auf und ab und sinnierte vor sich hin, während die anderen wahllos Vorschläge zum besten gaben. Höndel schlug mit bitterem Humor vor, er werde zu den Gnomen gehen und sich gefangennehmen lassen. Die Gnome würden so hocherfreut sein, ihn, den Mann, den sie seit Jahren unschädlich zu machen suchten, in der Gewalt zu haben, daß sie an etwas anderes gar nicht mehr denken würden. Menion hielt von dem Witz wenig und forderte Höndel auf, bei der Sache zu bleiben.
»Genug geschwätzt!« schrie Menion schließlich ungeduldig.
»Was wir brauchen, ist ein Plan, der uns weiterhilft, bevor Shea und Flick rettungslos verloren sind. Was sollen wir tun?« »Wie breit ist der Paß?« fragte Balinor.
»Dort, wo die Gnome sich versammelt haben, an die zweihundert Meter«, erwiderte Dayel. Er überlegte und schnippte mit den Fingern. »Die rechte Seite des Passes ist völlig offen, aber auf der linken Seite gibt es kleine Bäume und Strauchwerk an der Felswand. Das würde uns etwas Deckung bieten.«
»Zu wenig«, wandte Höndel ein. »Der Jade-Paß ist breit genug für den Durchmarsch einer Armee, aber bei der dürftigen Deckung vorbeischlüpfen zu wollen wäre selbstmörderisch.
Ich kenne ihn von der anderen Seite. Jeder Gnom würde uns auf Anhieb entdecken.«
»Dann müssen sie eben in eine andere Richtung blicken«, knurrte Balinor, als die verschwommenen Umrisse eines Planes aufzutauchen begannen. Er kniete plötzlich nieder und kratzte mit einem kurzen Stock eine grobe Skizze des Paßzugangs in den Boden, bevor er Dayel und Höndel fragend ansah.
Menion hatte sich wieder ein wenig beruhigt und trat hinzu.
»Nach der Zeichnung scheinen wir in Deckung und im Dunkeln bleiben zu können, bis wir hier sind«, erläuterte Balinor und zeigte auf einen Punkt in der Nähe der linken Felswand.
»Die Steigung ist sanft genug, daß wir über den Gnomen und innerhalb des Buschwerks bleiben können. Dann kommt freies Gelände in einer Länge von fünfundzwanzig oder dreißig Metern, bis der Wald an der steileren Felswand wieder anfängt. Das ist der Abschnitt, wo wir für jeden sichtbar sind, der aufpaßt. Wenn wir diesen Teil passieren, müssen die Gnome veranlaßt werden, sich in eine andere Richtung zu drehen.« Er machte eine Pause und starrte in die vier sorgenvollen Gesichter; er wünschte sich verzweifelt einen besseren Plan, aber es blieb keine Zeit, einen solchen auszuarbeiten, wenn sie die Chance wahren wollten, das Schwert von Shannara wiederzugewinnen. Was immer sonst auf dem Spiel stehen mochte, nichts war von solcher Bedeutung wie das Leben Sheas, des Erben der Macht des Schwertes, mit dem sich die einzige Hoffnung der Völker in den vier Ländern verband, einen Konflikt zu vermeiden, dem sie alle erliegen würden.
»Das erfordert den besten Bogenschützen im Südland«, fuhr Balinor leise fort. »Nur Menion Leah kommt dafür in Frage.« Menion hob erstaunt den Kopf, konnte seinen Stolz aber nicht ganz verbergen. »Es kann nur einen Schuß geben«, sagte der Prinz von Callahorn. »Wenn er nicht genau ins Ziel trifft, sind wir verloren.«
»Wie sieht Euer Plan aus?« fragte Dayel.
»Wenn wir das Ende der Deckung erreichen, wird Menion einen der Gnomen-Häuptlinge ins Visier nehmen und ihn mit einem einzigen Schuß töten. In der allgemeinen Verwirrung können wir vorbeihuschen.«
»Das wird nicht gehen, mein Freund«, brummte Höndel.
»In dem Augenblick, in dem sie ihren Anführer von einem Pfeil getroffen sehen, werden sie den Paß stürmen, und es kann sich nur um Minuten handeln, bis man uns findet.«
Balinor schüttelte den Kopf.
»Nein, denn sie werden hinter einem anderen her sein. In dem Moment, in dem der Häuptling fällt, wird einer von uns sich an der Rückseite des Passes zeigen. Die Gnome werden so aufgebracht und so begierig sein, ihn zu fassen, daß sie sich nicht die Zeit nehmen werden, nach anderen zu suchen, und im Durcheinander können wir entkommen.«
Die anderen schwiegen und sahen sich gegenseitig an.
»Klingt gut, nur nicht für den Mann, der zurückbleibt, um sich zu zeigen«, meinte Menion schließlich. »Wer bekommt den Selbstmordauftrag?«
»Es war mein Plan«, sagte Balinor, »also ist es auch meine Sache, zurückzubleiben und die Gnome in das Wolfsktaag-Gebirge zu locken, bis ich einen Haken schlagen und mich mit euch am Rand des Anar wieder treffen kann.«
»Ihr müßt toll sein, wenn Ihr glaubt, ich lasse zu, daß Ihr hierbleibt und den ganzen Ruhm einheimst«, sagte Menion.
»Wenn ich den Schuß abgebe, bleibe ich auch zum Applaus, und wenn ich verfehle...« Er verstummte und zuckte die Achseln, dann schlug er Durin auf die Schulter, während die anderen ihn ungläubig anstarrten. Balinor wollte etwas einwenden, aber Höndel trat vor und schüttelte den Kopf.
»Der Plan ist nicht schlecht, aber wir wissen alle, daß der Mann, der zurückbleibt, ein paar tausend Gnome auf den Fersen haben wird. Es muß also ein Mann sein, der die Gnome kennt, ihre Methoden, wie man sich gegen sie verteidigt und überlebt. In diesem Fall ist das ein Zwerg, der die Kampferfahrung eines Lebens besitzt. Also ich. Außerdem habe ich euch schon erzählt, wie wild die hinter mir her sind.
Sie werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mich nach einer solchen Tat zu hetzen.«
»Und ich habe gesagt, daß es meine Pflicht ist...«, begann Menion wieder.
»Höndel hat recht«, unterbrach ihn Balinor endgültig.
»Die Wahl ist getroffen, und wir halten uns daran. Höndel besitzt die besten Aussichten zu überleben.«
Er wandte sich dem stämmigen Zwerg zu und drückte ihm die Hand, dann wandte Höndel sich ab und trabte den Weg hinauf. Die anderen sahen ihm nach, aber nach wenigen Sekunden war er verschwunden. Das Dröhnen der Trommeln und der Gesang der Gnome tönten durch die Nacht.
»Verbindet den Brüdern den Mund, damit sie nicht schreien können.« befahl Balinor. Als Menion sich nicht rührte, sondern wie angewurzelt an seinem Platz stand und immer noch in die Richtung starrte, wo Höndel verschwunden war, wandte Balinor sich an ihn und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Sorgt dafür, daß Euer Schuß das Opfer möglich macht, das er für uns alle bringen will.«
Man band die noch immer unruhigen Leiber der beiden Brüder fester auf die Bahren und dämpfte die leisen Schreie durch Knebel. Die vier Männer machten sich auf den Weg, verließen den Schutz der Bäume und gingen auf den Jade-Paß zu. Vor ihnen loderten die Lagerfeuer der Gnome und erhellten die Nacht mit gelben und orangeroten Flammen. Die Trommeln dröhnten einen beharrlichen Rhythmus und wurden ohrenbetäubend laut, als die kleine Kolonne ihnen näherrückte.
Der Gesang schwoll an, bis man den Eindruck hatte, die ganze Gnomen-Nation habe sich versammelt. Das Ganze wirkte unheimlich und unwirklich, als hätten sie sich in dieser primitiven Welt verirrt, indem Sterbliche und Geister gleichzeitig durch Alpträume wanderten, Rituale vollführend, die keinem sinnvollen Zweck zu dienen schienen.