Halb im Schlaf hörte er Satzfetzen, die sich mit Shea und Flick befaßten. Die Gnome waren der Meinung, daß die Brüder sich bald erholen würden. Dann ging plötzlich eine andere Tür, mehrere Leute kamen herein und berichteten Allanon Schreckliches.
»Was habt ihr entdeckt?« fragte er sie. »Ist es so schlimm, wie wir befürchtet haben?«
»Sie haben im Gebirge jemanden gefangen«, antwortete einer bedrückt. »Wir konnten nicht ermitteln, wer es war. Auf alle Fälle haben sie ihn in Stücke gerissen.«
Höndel! Betäubt richtete sich der Hochländer auf und taumelte zu seinem Bett zurück; er konnte nicht glauben, richtig gehört zu haben. Eine völlige Leere entstand in seinem Inneren, und hilfloser Zorn trieb ihm Tränen in die Augen, bis er endlich einschlief.
13
Als Shea endlich die Augen öffnete, war es Spätnachmittag des nächsten Tages. Er lag bequem in einem herrlichen Bett, auf sauberen Kissen, und trug ein langes, weißes Hemd. Neben ihm lag Flick, noch im Schlaf, mit einem Gesicht, das nicht mehr fahl und eingefallen war, sondern schon wieder frisch und friedlich. Sie befanden sich in einem kleinen weißgestrichenen Raum, an dessen Decke sich dicke Balken entlangzogen.
Durch die Fenster konnte Shea die Bäume des Anar und den schimmernd blauen Himmel sehen. Er wußte nicht, wie lange er bewußtlos gewesen oder was geschehen war in der Zeit, in der man ihn hierher gebracht hatte, aber er war gewiß, daß das Wesen im Wolfsktaag-Gebirge ihn beinahe getötet hatte und daß Flick und er ihr Leben den Begleitern ihrer Reise verdankten. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Tür, die plötzlich aufging. Menion Leah schaute besorgt herein.
»Nun, alter Freund, ich sehe, daß du wieder in die Welt der Lebenden zurückgekehrt bist.« Menion lächelte, als er ans Bett trat. »Du hast uns ganz schön in Angst versetzt, weißt du das?«
»Wir haben es aber geschafft, nicht wahr?« Shea grinste fröhlich.
Menion nickte kurz und wandte sich Flick zu, der sich unter seiner Decke zu regen begann. Flick öffnete langsam die Augen und blickte in das fröhliche Gesicht Menions.
»Ich wußte doch, es war zu schön, um wahr zu sein«, stöhnte er.
»Selbst als Toter kann ich ihm nicht entkommen. Das muß ein Fluch sein.«
»Auch der alte Flick hat sich wieder ganz gut erholt«, sagte Menion lachend. »Hoffentlich weiß er die Mühe zu schätzen, die es gekostet hat, sein Gewicht bis hierher zu schleppen.«
»An dem Tag, wo du ehrliche Arbeit leistest, werde ich das große Staunen kriegen«, murmelte Flick schläfrig. Er sah zu seinem Bruder hinüber und erwiderte dessen Lächeln.
»Wo sind wir eigentlich?« fragte Shea neugierig und setzte sich mühsam auf. Er fühlte sich doch noch sehr schwach.
»Wie lange bin ich ohne Bewußtsein gewesen?«
Menion setzte sich auf die Bettkante und schilderte den ganzen Verlauf ihres Marsches nach der Begegnung mit dem Ungeheuer. Bei dem Bericht von Höndels Opfer für die Gruppe geriet er ein wenig ins Stocken. Mit entsetzten Gesichtern hörten die Brüder vom grausigen Tod des tapferen Zwergs durch die Hand der gereizten Gnome. Menion führte die Erzählung schnell zu Ende und erzählte, wie sie durch den Anar gelaufen waren, bis Allanon sie gefunden hatte.
»Das Land hier heißt Storlock«, schloß er. »Die Bewohner sind Gnome, die sich der Heilung von Kranken und Verletzten widmen. Wirklich erstaunlich, was sie zu leisten vermögen. Sie besitzen eine Salbe, mit der sie jede offene Wunde in zwölf Stunden heilen. Ich habe das bei Dayel selbst gesehen.«
Shea schüttelte ungläubig den Kopf und wollte Fragen stellen, als die Tür wieder aufging und Allanon hereinkam. Zum erstenmal, seit Shea sich erinnern konnte, wirkte der schwarze Wanderer beinahe glücklich und zeigte ein echtes Lächeln der Erleichterung. Er trat auf sie zu und nickte befriedigt.
»Ich freue mich wirklich, daß ihr euch von euren Verwundungen erholt habt. Ich habe mir große Sorgen gemacht, aber die Stors haben sich selbst übertroffen. Fühlt ihr euch stark genug, das Bett zu verlassen und ein bißchen herumzugehen? Wollt ihr etwas essen?«
Shea sah fragend zu Flick hinüber, der ihm zunickte.
»Gut, dann geht mit Menion und prüft eure Kraft«, sagte Allanon. »Es ist wichtig, daß ihr euch bald stark genug fühlt, den Marsch fortzusetzen.«
Ohne ein weiteres Wort ging er wieder hinaus und schloß die Tür hinter sich. Sie sahen ihm nach und wunderten sich darüber, daß er noch immer so förmlich und kalt zu ihnen sein konnte. Menion zuckte die Achseln und versprach, ihre Kleidung zu holen, die inzwischen gereinigt worden war. Er ging und kam bald mit den Sachen zurück. Die Brüder stiegen mühsam aus den Betten und zogen sich an, während Menion mehr über die Stors berichtete. Er gab zu, ihnen zu Anfang mißtraut zu haben, weil sie Gnome waren. Seine Befürchtungen hätten sich aber rasch verflüchtigt, als er gesehen habe, wie sie sich um Shea und Flick bemüht hätten. Die anderen Kameraden hätten lange geschlafen und erholten sich jetzt irgendwo im Ort.
Die drei verließen bald danach das Zimmer und betraten ein anderes Gebäude, das dem Dorf als Speisehaus diente. Sie bekamen reichlich warmes Essen, um ihren Hunger zu stillen.
Trotz ihrer Verletzungen sahen sich die Brüder imstande, mehrere Portionen zu verschlingen. Danach führte Menion sie hinaus, wo sie auf die wieder ganz erholten Durin und Dayel stießen. Die Elfen-Brüder freuten sich, Shea und Flick auf den Beinen zu sehen. Auf Menions Vorschlag hin gingen sie zu fünft zum südlichen Ende des Dorfes, um sich den staunenswerten Blauen Teich anzusehen, von dem die Stors dem Hochländer erzählt hatten. Nach wenigen Minuten erreichten sie den kleinen Teich und setzten sich am Ufer unter eine große Trauerweide, um stumm auf das blaue Wasser hinauszublicken.
Menion berichtete, daß die Stors viele ihrer Salben und Tinkturen mit dem Wasser dieses Teichs als Grundelement herstellten, weil es über eine besondere Heilkraft verfüge. Shea trank einen Schluck von dem Wasser; es schmeckte anders als alles, was er je getrunken hatte, aber sehr angenehm. Die anderen folgten seinem Beispiel und bestätigten seine Aussage. Der Blaue Teich war ein so friedlicher Ort, daß sie sich dort für kurze Zeit entspannten und ihre gefährliche Reise vergaßen; sie dachten an ihre Heimat und an die Leute, die sie zurückgelassen hatten.
»Der Teich erinnert mich an Beleal, meine Heimat im Westland«, sagte Durin und lächelte vor sich hin, während er einen Finger durchs Wasser zog. »Dort findet man denselben Frieden wie hier.«
»Wir werden wieder zu Hause sein, bevor du dich umsiehst«, meinte Dayel und fügte eifrig, beinahe jungenhaft, hinzu: »Und ich werde Lynliss heiraten und mit ihr viele Kinder haben.«
»Vergeßt das lieber«, sagte Menion knapp. »Bleibt ledig und glücklich.«
»Ihr habt sie nicht gesehen, Menion«, sagte Dayel lebhaft.
»Sie ist ein sanftes, gutes Mädchen, so schön, wie dieser Teich klar ist.«
Menion schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf und boxte dem schmächtigen Elf in die Seite, ohne freilich ein verständnisvolles Lächeln unterdrücken zu können. Sie schwiegen lange Minuten und starrten auf das blaue Wasser.
Dann sah Shea die anderen fragend an.
»Glaubt ihr, wir tun das Richtige? Ich meine die ganze Reise und alles. Lohnt sich das wirklich?«
»Merkwürdig, wenn ausgerechnet du das sagst, Shea«, erklärte Durin nachdenklich. »So, wie ich es sehe, hast du das meiste zu verlieren, wenn du mitkommst. Du bist eigentlich der, um den sich alles dreht. Glaubst du denn, daß es lohnend ist?«
Shea überlegte, während die anderen ihn ansahen und warteten.