Allanon schaute schnell zum Nachthimmel hinauf. Seine dunkle Stirn furchte sich. Er sah Durin an.
»Ich bin sicher, daß uns jemand auf den Fersen ist«, bekräftigte Durin.
»Ich kann nicht hierbleiben, um mich selbst damit zu befassen.
Ich muß vor Tagesanbruch im Tal sein«, sagte Allanon plötzlich. »Was auch immer hinter uns sein mag, es muß aufgehalten werden, bis ich fertig bin — das ist unerläßlich!«
Shea hatte selten eine solche Entschiedenheit in der Stimme Allanons gehört und bemerkte den verblüfften Ausdruck auf den Gesichtern von Flick und Menion, die einander anstarrten.
Was Allanon im Tal auch zu tun haben mochte, es kam für ihn entscheidend darauf an, nicht gestört zu werden, bis er fertig war.
»Ich bleibe zurück«, sagte Balinor und zog sein großes Schwert. »Wartet im Tal auf mich!«
»Nicht allein!« erklärte Menion sofort. »Ich bleibe auch, für alle Fälle!«
Balinor lächelte kurz und nickte. Allanon sah ihn einen Augenblick an, als wolle er widersprechen, nickte dann aber ebenfalls und winkte den anderen, ihm zu folgen. Die Elfen-Brüder hasteten hinter ihm den Weg hinauf, doch Shea und Flick zögerten unsicher, bis Menion sie weiterschob. Shea murrte, unwillig, seinen Freund verlassen zu müssen, begriff aber, daß er wenig würde ausrichten können, wenn er blieb.
Er schaute sich einmal kurz um und sah, wie die zwei Männer sich auf beiden Seiten des schmalen Pfades aufstellten. Ihre Schwerter glänzten im trüben Sternenlicht, ihre schwarzen Mäntel verschmolzen mit der Umgebung, Allanon führte die anderen vier Gefolgsleute durch das Gewirr von Felsblöcken, indem er vorausging und zum Rand des rätselhaften Tales hinaufstieg. Nach wenigen Minuten standen sie oben und blickten staunend hinunter. Das Tal war eine barbarische Wildnis zahlloser Felsbrocken und -blöcke, die überall herumlagen, schwarz und schimmernd wie der Stein, den Shea auf dem Pfad aufgehoben hatte. Nichts sonst war sichtbar, außer einem kleinen See mit grünlich-schwarz schimmerndem Wasser, das sich träge im Kreis bewegte, wie von Getier belebt. Shea starrte gebannt auf das strudelnde Wasser. Es gab keinen Wind, der die Bewegung hätte hervorrufen können. Er warf einen Blick auf den schweigsamen Allanon und sah entsetzt ein seltsames Leuchten von dessen dunklem, unheimlichem Gesicht ausgehen. Der schwarze Wanderer schien sich in seinen Gedanken verloren zu haben, während er auf den See hinabblickte, und Shea spürte eine seltsame Sehnsucht im Blick des Historikers.
»Das ist das Schiefer-Tal, die Schwelle zur Halle der Könige und dem Heim der Geister aller Zeitalter.« Die tiefe Stimme wurde lauter. »Der See ist der Hadeshorn — sein Wasser bedeutet Tod für die Sterblichen. Geht mit mir ins Tal hinab, von dort aus muß ich allein weiter.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg er langsam den Hang hinab, den Blick unverwandt auf den See gerichtet. Die anderen folgten stumm; sie spürten, daß dies ein wichtiger Augenblick für sie alle werden würde, daß hier, mehr als anderswo in allen Ländern, Allanon König war. Ohne erklären zu können, warum, wußte Shea, daß der Historiker, Wanderer, Philosoph und Mystiker, der Mann, der sie durch zahllose Gefahren einen Weg geführt hatte, den nur er ganz verstand, daß der rätselhafte Mann, den sie als Allanon kannten, endlich heimgekehrt war. Augenblicke später, als sie auf dem Talboden standen, wandte er sich ihnen zu.
»Ihr wartet hier auf mich. Ganz gleich, was geschehen mag, ihr folgt mir nicht! Ihr entfernt euch nicht von dieser Stelle, bis ich fertig bin! Wohin ich gehe, ist nur Tod!«
Sie standen wie angewurzelt, als er sich von ihnen entfernte und auf den geheimnisvollen See zuging. Sie sahen seine riesige, schwarze Gestalt mit gleichmäßigen Schritten sich entfernen, während der weite Mantel sich bauschte. Shea warf einen Blick auf seinen Bruder, dessen angespannte Miene verriet, welche Angstgefühle ihn bewegten. Für den Bruchteil einer Sekunde erwog Shea, das Weite zu suchen, erkannte aber sofort, wie unsinnig das gewesen wäre. Instinktiv griff er an seinen Rock und spürte den Beutel mit den Elfensteinen.
Er fühlte sich ein wenig sicherer, obwohl er bezweifelte, dass sie viel würden ausrichten können gegen Dinge, mit denen Allanon nicht fertig wurde. Er sah sorgenvoll zu den anderen hinüber, die der Gestalt nachsahen, dann richtete er den Blick auch wieder auf Allanon und sah, daß er den Rand des Hadeshorn-Sees erreicht hatte, wo er offenbar auf etwas wartete.
Totenstille schien sich über das ganze Tal zu legen. Die vier warteten, den Blick auf die schwarze Gestalt geheftet, die regungslos am Wasser stand.
Langsam hob der Wanderer die Arme zum Himmel, und die fassungslosen Männer sahen, wie der See sich heftig zu regen begann und wogte. Das Tal erbebte, als sei eine Form verborgenen, schlafenden Lebens erweckt worden. Die entsetzten Zuschauer schauten sich ungläubig um und fürchteten, vom Steinmaul eines Alptraumwesens verschlungen zu werden, das sich als Tal getarnt hatte. Allanon stand unbeweglich am Ufer, als das Wasser in der Mitte zu brodeln begann und ein Sprühnebel zum Himmel emporstieg, mit einem scharfen Zischen der Erleichterung über die neuerworbene Befreiung aus den Tiefen. Aus der Nacht drang leises Stöhnen, das Schreien gefangener Seelen, deren Schlaf von dem Mann am Ufer des Hadeshorn gestört wurde. Die Stimmen, nicht mehr menschlich und von der Kälte des Todes umschattet, durchbohrten die Gemüter der vier, die dabeistanden und fröstelnd zusahen, zerrten an ihrem entsetzten Geist und würgten ihn mit gnadenloser Grausamkeit, bis es schien, daß ihnen der letzte Rest von Mut entrissen werden sollte, um sie völliger Hilflosigkeit auszuliefern. Unfähig, sich zu bewegen, zu sprechen, ja, zu denken, erstarrten sie vor Schreck, als die Laute der Geisterwelt zu ihnen heraufdrangen, sie vor Dingen warnend, die jenseits dieses Lebens und ihrer Fassungskraft lagen.
Begleitet von den grausigen Schreien öffnete sich mit einem tiefen Grollen, das aus dem Inneren der Erde drang, der Hadeshorn-See wie ein peitschender Strudel, und aus dem dunklen Wasser erhob sich die Erscheinung eines alten Mannes, gebückt vom Alter. Die Gestalt schwebte zu voller Höhe auf und schien auf dem Wasser selbst zu stehen. Flick wurde leichenblaß. Das Auftauchen dieser Erscheinung bestätigte ihn in seiner Überzeugung, daß ihre letzten Augenblicke gekommen seien. Allanon stand regungslos am Ufer, die Arme wieder gesenkt, den schwarzen Mantel um seine Riesengestalt gehüllt, das Gesicht dem Schatten auf dem See zugewandt. Er und die Gestalt auf dem Wasser schienen miteinander zu sprechen, aber die vier Zuschauer hörten nichts als die unaufhörlichen, unmenschlichen Schreie, die durch die Nacht hallten, während die Gestalt auf dem See gestikulierte. Das Gespräch, wie immer es geführt werden mochte, dauerte nicht länger als einige Minuten und endete, als der Geist sich ihnen zuwandte, die Skelettarme hob und auf etwas deutete. Shea spürte einen eisigen Hauch, der ihn streifte und ihm bis ins Mark drang, und er wußte, daß er für einen kurzen Augenblick vom Tod berührt worden war. Dann wandte sich der Schatten ab, grüßte Allanon mit einer letzten Geste, versank langsam im dunklen Wasser und war verschwunden. Als er unterging, brodelte der See von neuem, und die Schreie und das Stöhnen schwollen noch einmal an, bevor sie verklangen.
Dann war der See glatt und ruhig, und die Männer waren allein.
Als die Sonne über dem Horizont aufging, schien die hohe, schwarze Gestalt am See zu schwanken, einen Augenblick später sank sie zu Boden. Die vier Männer zögerten kurz, dann liefen sie hinzu, erreichten den Gestürzten binnen Sekunden und beugten sich über ihn, ungewiß, was zu tun sei.
Durin bückte sich schließlich, schüttelte Allanon ein wenig und rief seinen Namen. Shea rieb die großen, eiskalten Hände. Ihre Ängste lösten sich aber auf, als Allanon sich nach wenigen Minuten regte und die tiefliegenden Augen aufschlug.
Er starrte sie eine Weile an, dann setzte er sich langsam auf.