Er zählte siebenmal ein kaum wahrnehmbares Kopfnicken. »Nach dem Korridor der Winde werden wir im Grabmal der Könige sein. Dann kommt nur noch ein Hindernis...« Er verstummte und richtete den Blick wachsam auf den Höhleneingang.
Einen Augenblick lang schien es, als wolle er den Satz zu Ende führen, aber statt dessen winkte er sie zum dunklen Eingang.
Sie standen unsicher zwischen den Steinriesen, während der graue Nebel die hohen Felswände ringsum einhüllte. Die schwarze, gähnende Öffnung lag vor ihnen wie das offene Maul eines riesigen Raubtiers. Allanon zog eine Reihe von breiten Stoffstreifen hervor und gab jedem einen davon. Mit einem langen Kletterseil banden sie sich aneinander fest, Durin mit seinen sicheren Füßen übernahm die Führung, der Prinz von Callahorn bildete die Nachhut. Die Augenbinden wurden umgelegt, und die Männer faßten sich an den Händen, um eine Kette zu bilden.
Augenblicke danach zog die Kolonne bedachtsam durch den Eingang zur Halle der Könige.
In den Höhlen herrschte eine tiefe, lastende Stille, verstärkt durch das plötzliche Ersterben des Sturmwindes und ihrer hallenden Schritte auf dem Felspfad. Der Tunnelboden war seltsam glatt und eben, aber die Kälte, die seit Jahrhunderten im uralten Gestein lagerte, drang schnell in ihre angespannten Leiber, bis sie fröstelten. Keiner sprach, jeder versuchte sich zur Ruhe zu zwingen, während Allanon sie vorsichtig durch eine Reihe von Biegungen führte. Shea, in der Mitte der sich vorantastenden Kolonne, spürte, wie Flicks Hand die seine fest umklammerte. Seit ihrer Flucht aus dem Tal waren sie einander noch nähergekommen, verbunden nun mehr durch gemeinsame Erlebnisse als durch Verwandtschaft. Was immer auch mit ihnen geschehen mochte, Shea hatte das Gefühl, daß diese enge Verbundenheit nicht mehr verlorengehen konnte. Er würde auch nicht vergessen, was Menion für ihn getan hatte. Er dachte kurz über den Prinzen von Leah nach und mußte lächeln. Der Hochländer hatte sich in den vergangenen Tagen so gewandelt, daß er beinahe ein anderer Mensch geworden war. Den alten Menion gab es noch, aber er besaß jetzt eine neue Dimension, die zu definieren Shea schwerfiel. Aber letztlich hatten sie sich alle verändert, Menion, Flick und er selbst auch, auf vielerlei, nicht so leicht zu ergründende Art. Er fragte sich, ob Allanon die Veränderung in ihm wahrgenommen hatte - Allanon, der ihn stets mehr als Jungen denn als richtigen Mann behandelte.
Sie kamen unsicher zum Stehen, und in der tiefen Stille danach flüsterte die befehlende Stimme des Druiden lautlos im Gehirn jedes einzelnen der Männer:
Denkt an meine Warnung, richtet eure Gedanken auf mich, konzentriert euch allein auf mich.
Dann setzte sich die Reihe wieder in Bewegung, mit hohl hallenden Schritten. Augenblicklich spürten die Männer mit ihren verbundenen Augen die Gegenwart einer lautlos und geduldig wartenden Wesenheit vor sich.
Die Sekunden huschten vorbei, als die Gruppe tiefer in die Höhlen vorstieß. Die Männer wurden sich riesiger, stiller Gestalten bewußt, die auf beiden Seiten emporragten - Gestalten, aus Stein gemeißelt, mit Gesichtern, die menschlich waren, aber auf den geduckten Leibern nicht zu beschreibender Tiere. Die Sphinxe. In ihren Gedanken konnten die Männer diese Augen sehen, das verblassende Bild Allanons durchdringend, und sie spürten die Belastung bei dem Versuch, sich auf den riesigen Druiden zu konzentrieren. Der drängende Wille der Steinungeheuer bohrte sich in ihre Gehirne, wand und schlängelte sich in ihre wirren Gedanken, dem Augenblick entgegenstrebend, in dem menschliche Augen ihrem eigenen, leblosen Blick begegnen würden. Jeder einzelne spürte einen wachsenden Drang, die Binde von den Augen zu reißen, der Dunkelheit zu entfliehen und frei auf die wundersamen Wesen zu blicken, die stumm auf sie herabstarrten.
Aber gerade als es schien, daß das bohrende Flüstern der Sphinxe die erlahmende Entschlossenheit der bedrängten Männer durchbrechen und ihre Gedanken vom sich auflösenden Bild Allanons gänzlich fortzureißen schien, stieß sein eiserner Wille mit der Schärfe eines Messers in ihr Inneres und rief ihnen wortlos zu:
Denkt allein an mich.
Sie gehorchten instinktiv und lösten sich von dem fast überwältigenden Trieb, in die steinernen Gesichter emporzublicken. Der unheimliche Kampf setzte sich erbarmungslos fort, als die Männer sich, in der Stille schwitzend und schwer atmend, durch das wirre Labyrinth unsichtbarer Erscheinungen vorwärtskämpften, aneinandergebunden durch das Seil an ihren Hüften, die Kette fest umklammerter Hände und die befehlende Stimme Allanons. Keiner lockerte den Griff. Der Druide führte sie ruhig an der Sphinxreihe vorbei, den eigenen Blick starr auf den Boden gerichtet, mit seinem unbezähmbaren Willen darum kämpfend, die Gedanken seiner blinden Schützlinge an sich zu binden. Dann blieben die Gesichter der Steinkreaturen endlich zurück und ließen die Sterblichen in der Stille und der Dunkelheit allein.
Sie gingen weiter durch eine lange Reihe gewundener Gänge.
Dann kamen sie wieder zum Stehen, und Allanons leise Stimme durchdrang die Schwärze mit dem Befehl, die Augenbinden abzunehmen.
Sie taten es zögernd und sahen sich in einem engen Tunnel, wo das unbehauene Gestein ein unheimliches grünes Licht abgab. Ihre angespannten Gesichter wirkten wie Masken im seltsamen Schimmer. Die Männer sahen sich kurz an, um sich zu vergewissern, daß sie noch alle zur Stelle waren. Die schwarze Gestalt des Druiden huschte lautlos die Reihe entlang, prüfte die Festigkeit des Seils um ihre Körper und wies warnend darauf hin, daß sie den Korridor der Winde noch vor sich hatten. Er stopfte Stoff fetzen in ihre Ohren und band sie mit den vorher als Augenbinden benützten Streifen fest, um die Geräusche der unsichtbaren Wesen zu dämpfen, die Allanon Banshies genannt hatte.
Dann reichten die Männer einander wieder die Hände.
Der Zug bewegte sich langsam durch den grünschimmernden engen Tunnel. Die Männer konnten ihre Schritte kaum noch hören.
Dieser Teil der Höhle erstreckte sich fast eine Meile weit, dann wurde der Gang breiter, wuchs zu einem hochragenden Korridor, der völlig schwarz war. Die Felswände wichen zurück, und die Decke hob sich, bis beide ganz dem Blick entschwanden und die Gruppe allein in einer seltsamen, dunklen Zwischenwelt stand, wo nur der glatte Höhlenboden bestätigte, daß die Erde sich unter ihnen nicht ganz aufgelöst hatte. Allanon führte sie ohne Zögern in die Schwärze hinein.
Dann begann abrupt das Geräusch. Das wahnsinnige Toben erfaßte sie, ohne daß sie darauf vorbereitet gewesen wären, und einen Augenblick lang herrschte Panik. Es entstand ein ungeheuerliches Brausen, als tobten tausend Sturmwinde voller Wut und unerbittlicher Kraft. Aber darunter tönte der grausige Schrei von gemarterten Seelen, Stimmen, die sich gequält durch alle vorstellbaren Schrecknisse der Unmenschlichkeit wanden, in äußerster Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, ohne Aussicht auf Erlösung. Aus dem Brausen wurde ein gellendes Kreischen, das sich zu solchen Dimensionen steigerte, daß die Männer Gefahr liefen, den Verstand zu verlieren. Die furchtbaren Laute fluteten über sie hinweg, spiegelten ihre eigene, wachsende Verzweiflung, drangen unbarmherzig tiefer und schälten die zerfetzten Nervenenden wie Hautschichten ab, bis die nackten Knochen freizuliegen schienen.
Es hatte nur einen Augenblick gedauert. Ein zweiter, und sie wären verloren gewesen. Aber noch einmal wurden die hoffnungslos betäubten Menschen gerettet, diesmal vor gnadenlosem Wahnsinn, als der machtvolle Wille Allanons das irre Kreischen übertönte, um sie mit schützender Beschwichtigung einzuhüllen.