Weder Menion noch Allanon waren zu sehen. Doch dann tauchten sie aus dem dichten Dunst auf, Menion leicht hinkend, aber den Bogen und das Schwert von Leah fest umklammernd, Allanons schwarze Gestalt zerrauft, mit Staub und Asche bedeckt.
Wortlos winkte der Druide den Talbewohner weiter, und gemeinsam stolperten die drei durch die halb blockierte Öffnung.
Was danach geschah, lief in der Erinnerung aller nur nebelhaft ab. Betäubt eilten die erschöpften Männer durch den Tunnel, die beiden verwundeten und bewußtlosen Kameraden mitschleppend.
Die Zeit dehnte sich qualvoll, aber dann, ganz plötzlich, standen sie im Freien, blinzelten im grellen Licht der Nachmittagssonne, am Rand einer gefährlich steilen Felswand. Rechts von ihnen wand sich die Drachenfalte hinab zum offenen Hügelland.
Plötzlich begann der ganze Berg drohend zu grollen und unter ihren Füßen in kurzen Stößen zu erzittern. Mit einem scharfen Befehl trieb Allanon sie den engen Pfad hinunter. Balinor übernahm die Führung, immer noch Höndel auf der Schulter, dahinter Menion Leah. Durin und Dayel folgten ihnen, Flick schleppend. Dahinter kamen Shea und schließlich Allanon. Das unheimliche Grollen im Inneren des Berges hielt an. Langsam stieg die kleine Gruppe den schmalen Weg hinab. Er schlängelte sich zwischen überhängenden Felsen und an plötzlichen Abstürzen uneben dahin, und die Männer mußten sich in regelmäßigen Abständen an die Felswand pressen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und hundert Meter tief in den Abgrund zu stürzen.
Die Drachenfalte trug ihren Namen zu Recht. Die ständigen Biegungen und Haken des Weges verlangten konzentrierte Aufmerksamkeit und Vorsicht, und die immer wieder auftretenden Erdstöße erschwerten die Aufgabe nur noch mehr.
Sie waren nur ein kurzes Stück auf dem gefährlichen Pfad vorangekommen, als ein neues Geräusch hörbar wurde, ein tiefes Brausen, das bald das Grollen des Berges übertönte. Shea, mit Allanon am Ende des Zuges, vermochte die Quelle des Geräusches nicht auszumachen, bis er sie fast erreicht hatte. Er ging um eine Felskante herum, die ihn auf einen nordwärts gerichteten Sims führte, und entdeckte einen riesigen Wasserfall. Tonnen schäumenden Wassers stürzten mit ohrenbetäubendem Brüllen in einen breiten Fluß hinab, der zwischen den Bergketten dahinrauschte und mit einer Reihe von Stromschnellen östlich zu den Rabb-Ebenen führte. Der gewaltige Fluß fegte unmittelbar unter dem Sims vorbei, auf dem er stand, und das schäumende Wasser klatschte und brodelte an die Bergwände. Shea warf noch einen letzten Blick darauf und hastete dann auf Allanons Anweisung den Weg hinab. Die anderen hatten schon einen Vorsprung erzielt und waren für den Augenblick nicht zu sehen.
Shea war etwa dreißig Meter weit gekommen, als ein plötzlicher Erdstoß, heftiger als die anderen, den Berg bis ins Mark erschütterte.
Ohne Vorwarnung brach das Wegstück, auf dem er stand, ab und glitt den Hang hinab, den hilflosen Talbewohner mitreißend. Er stieß einen Entsetzensschrei aus und versuchte, sich abzufangen, als er sich auf einen steilen Überhang zurutschen sah, der scharf zum tobenden Fluß im Talboden abstürzte.
Allanon sprang vor, als Shea in einer Wolke von Staub und Gestein zu dem tödlichen Überhang hinabfegte.
»Pack irgend etwas!« schrie der Druide. »Halt dich fest!«
Shea griff vergebens hinaus, versuchte sich in die Felswand zu krallen und bekam im letzten Augenblick, am Abgrund, einen Felsvorsprung zu fassen. Er lag flach an der fast vertikalen Stelle und wagte nicht, hinaufzuklettern. Seine Arme drohten den Dienst zu versagen.
»Festhalten, Shea!« rief Allanon. »Ich hole ein Seil! Nicht bewegen!«
Allanon rief die anderen, aber ob sie hätten helfen können, erfuhr Shea nie. Als der Druide um Hilfe schrie, erschütterte ein neuerlicher Stoß den Berg und riß den unglücklichen Talbewohner von seinem dürftigen Halt los und ließ ihn hinausschießen über den Überhang, bevor er auch nur daran denken konnte, sich irgendwo festzuhalten. Mit wild rudernden Armen und Beinen stürzte er kopfüber in das reißende Wasser des Flusses. Allanon sah hilflos zu, als Shea mit enormer Wucht aufschlug, an die Oberfläche kam und davongerissen wurde nach Osten, der Ebene entgegen, umhergeschleudert im brodelnden Strom wie ein kleiner Korken, bis er dem Blick entschwand.
15
Flick Ohmsford stand regungslos am Fuß der Drachenzähne und starrte ins Leere. Die verblassenden Strahlen der Spätnachmittagssonne überzogen seine stämmige Gestalt mit einem schwachen Schimmer und warfen seinen Schatten auf das abkühlende Gestein des Riesenberges in seinem Rücken. Er lauschte einen Augenblick den Geräuschen ringsum, den gedämpften Stimmen von anderen aus der Gruppe nahebei, dem Gezwitscher der Vögel vorne im Wald. In seinem Inneren hörte er für einen Augenblick Sheas entschlossene Stimme, und er erinnerte sich an den großen Mut seines Bruders angesichts der tausendfachen Gefahren, die sie gemeinsam bestanden hatten. Nun war Shea fort, wahrscheinlich tot, fortgerissen von dem unbekannten Strom zu der Ebene auf der anderen Seite des Gebirges, das zu überwinden sie solche Anstrengungen auf sich genommen. Er rieb sich vorsichtig den Kopf, spürte die Beule und den dumpfen Schmerz vom Schlag des Steinbrockens, der ihn getroffen hatte, so daß er nicht fähig gewesen war, seinem Bruder zu helfen, gerade als dieser ihn am nötigsten gebraucht hätte. Sie waren bereit gewesen, sich dem Tod durch die Schädelträger zu stellen, bereit, durch die Schwerter der umherziehenden Gnome zu sterben, bereit sogar, sich den Schrecknissen der Halle der Könige auszuliefern.
Aber daß alles ein Ende finden sollte durch eine Laune der Natur an einem schmalen Felssims, als sie der Gefahr schon entronnen zu sein schienen, war unerträglich. Flick spürte solch ätzenden Schmerz in sich, daß er seine Bitterkeit am liebsten laut hinausgeschrien hätte. Aber selbst jetzt konnte er das nicht. Sein Inneres verkrampfte sich gegen die Wut, der er nicht Ausdruck geben konnte, und er spürte nur eine grenzenlose Leere.
Menion Leah schien einen markanten Gegensatz zu bilden, als er einige Meter von Flick entfernt in wilder Verzweiflung hin- und herstürmte, vorgebeugt, beinahe geduckt wie ein verwundetes Tier. In seinem Gehirn loderten Wut und Empörung, nutzloser Zorn, wie ein Tier im Käfig ihn empfindet, wenn auf Flucht keine Aussicht besteht und nur noch der innere Stolz und der Haß auf das Geschehene bleiben. Er wußte, daß er nichts hätte tun können, um Shea zu helfen, aber das half wenig, das Schuldgefühl zu betäuben, das er angesichts der Tatsache empfand, nicht zur Stelle gewesen zu sein, als der Sims abgebrochen und Shea in das tobende Wasser der Stromschnellen gestürzt war.
Vielleicht wäre es möglich gewesen, das Schreckliche zu verhindern, hätte er Shea nicht mit Allanon allein gelassen. Aber er wußte auch, daß Allanon keine Schuld trug; Allanon hatte alles getan, um Shea zu schützen. Menion eilte mit langen, zornigen Schritten hin und her und grub die Stiefelabsätze hart in den Boden.
Er weigerte sich, einzuräumen, daß ihre Suche zu Ende war, daß sie gezwungen sein würden, sich als geschlagen zu bekennen, wenn das Schwert von Shannara schon in Reichweite lag. Er blieb stehen und überdachte für Augenblicke des Ziel ihrer Suche. Für den Hochländer ergab das Ganze noch immer keinen Sinn. Selbst wenn sie das Schwert erlangten, was konnte ein Mann, kaum mehr als ein Jüngling, gegen die Macht eines Wesens von der Art des Dämonen-Lords auszurichten hoffen? Nun würden sie es nie erfahren, weil Shea allem Anschein nach tot war; selbst wenn nicht tot, für sie nicht mehr erreichbar. Nichts schien mehr sinnvoll zu sein, und Menion Leah begriff schlagartig, wieviel ihm die beiläufige, mühelose Freundschaft zwischen ihnen bedeutet hatte. Sie hatten nie darüber gesprochen, sie nie offen bestätigt, aber sie war trotz allem da gewesen und für ihn überaus wichtig.