Ober- und unterhalb der Ebene ringsum, des Totenschädelreichs, standen wie rostige Sägezähne die Spitzen des Rasiermessergebirges und der Klingenkante, einer undurchdringlichen Barriere für sterbliches Leben. Zwischen ihnen erhob sich der sterbende Berg des Geister-Lords, vergessen von der Natur, vernachlässigt von den Jahreszeiten, langsam verfallend. Das Leichentuch, das die hohen Schroffen einhüllte, sich mit gnadenloser Härte an die zerklüfteten Wände krallte, breitete seine bösartige Aura über das ganze Land, mit unverwechselbarem Haß auf die wenigen Reste von Leben und Schönheit, denen es auf irgendeine Weise gelungen war, zu überleben. Eine dem Untergang geweihte Ära wartete still im Nordlandreich des Dämonen-Lords. Nun herrschte die Stunde des Todes, die letzten Anzeichen von Leben zerschmolzen langsam im Hintergrund, während nur die Hülle der Natur blieb, einst hell und großartig leuchtend.
Den Schädel des einsamen Berges durchzogen Hunderte zeitloser Höhlen, deren alles überdauernde Felswände sonnenlos in der nie veränderten Grauschwärze des Himmels dahinter verschwammen.
Sie wanden sich mit der unbarmherzigen Bösartigkeit einer in die Enge getriebenen Schlange in zahllosen Spiralen durch den Fels. Alles war Stille und Tod im grauen Nebel des Geisterreichs, eine alles durchdringende Düsterkeit, die das gänzliche Ersterben jeder Hoffnung, den totalen Untergang von Fröhlichkeit und Licht bezeichnete. Es gab jedoch sogar hier Bewegung, aber es war Leben ganz unähnlich jedem, das sterbliche Menschen kannten. Seine Quelle war die isolierte schwarze Kammer an der Spitze des Berges, ein ungeheurer Raum, dem trüben Licht des trostlosen Himmels offen wie der endlosen Kette dräuender Berge, die das Nordtor zum Reich bildeten. In diesem höhlenartigen Raum, dessen Wände feucht waren von der messergleich durch das Gestein dringenden Kälte, huschten die tintigen Gehilfen des Dämonen-Lords umher. Ihre kleinen, schwarzen Formen krochen am Boden der stillen Kammer herum, die rückgratlosen Leiber gebeugt und zerquetscht von der furchtbaren, alles verrenkenden Macht, die ihr Meister über sie ausübte. Selbst aufrechtes Gehen wäre in ihrem Dasein eine Erlösung gewesen. Sie waren hirnlose Gespenster, nur dazu da, dem einen zu dienen, der sie versklavte. Sie murmelten, während sie umhereilten, stießen leise Schreie aus und weinten wie in unvorstellbarer Qual. In der Mitte des Raumes erhob sich ein großes tiefes Tal mit einem Becken voll Wasser, dessen dunkle Oberfläche still und tödlich war. Von Zeit zu Zeit hastete eines der kleinen, kriechenden Wesen zum Rand und starrte angstvoll ins kalte Wasser, die Augen hin- und herdrehend, wartend, aufmerksam beobachtend. Einen Augenblick später huschte es dann wimmernd davon und verschmolz mit den Schatten der Höhle.
»Wo ist der Meister, wo ist der Meister?« tönten die Rufe wie Flüstern durch das Grau, während die kleinen Wesen unsicher durcheinanderliefen. »Er wird kommen, er wird kommen, er wird kommen«, tönte das Echo voller Haß zurück.
Dann regte sich heftig die Luft, als befreie sie sich von dem Raum, in dem sie festgehalten war, und der Nebel schien sich zu einem riesigen, schwarzen Schatten zu verdichten, der am Rand des Beckens langsam materielle Gestalt annahm. Der Nebel sammelte sich und wirbelte und wurde zum Geister-Lord, einer riesenhaften, vermummten schwarzen Gestalt, die in der Luft zu schweben schien. Die Ärmel hoben sich, aber darin befanden sich keine Arme, und die Falten der wallenden Gewänder bedeckten nichts als den Boden. »Der Meister, der Meister!« riefen die Stimmen der entsetzten Wesen im Chor, und ihre gebückten Gestalten duckten sich tiefer vor ihm. Die gesichtslose Kapuze wandte sich ihnen zu und blickte hinunter, und in der Schwärze sahen sie das Aufleuchten winziger Flammen, die in befriedigtem Haß loderten, funkenartig in einem verschwommenen grünen Nebel aufzuckend, der das Innere der Robe ausfüllte. Dann wandte der Dämonen-Lord sich ab, und sie waren vergessen, als er in das Wasser des seltsamen Beckens starrte und auf das Erscheinen des befohlenen geistigen Bildes wartete. Sekunden später verflog die Dunkelheit, und an ihre Stelle trat der Feuerofenraum in Paranor, wo Allanons Leute dem gefürchteten Schädelträger gegenüberstanden. Die lodernden Augen im grünen Nebel starrten zuerst auf Flick und verfolgten dann den Kampf zwischen den beiden schwarzen Gestalten, bis sie in die Flammen hinabstürzten. In diesem Augenblick veranlaßte ein Geräusch den Geister-Lord, sich umzudrehen. Zwei von seinen Schädel trägem betraten den Raum durch einen der dunklen Tunnel und warteten stumm auf seine Weisung. Er war noch nicht bereit für sie und wandte sich wieder dem Becken zu. Erneut wurde das Wasser hell und zeigte ein Bild des Turmes, wo die fünf Männer fassungslos vor dem Schwert von Shannara standen. Der Dämonen-Lord wartete einige Sekunden, spielte mit ihnen, genoß seine Beherrschung der Lage, als sie sich dem Schwert näherten wie Mäuse dem Köder. Sekunden später schnappte die Falle zu, als er die Illusionen vor ihren entgeisterten Blicken auflöste und die Turmtür zufallen sah, die sie für immer im Verlies einschloß. Die beiden geflügelten Diener hinter ihm spürten das eisige Lachen, das durch seine substanzlose Gestalt in die Höhle gellte.
Ohne sich nach ihnen umzudrehen, wies der Dämonen-Lord abrupt auf die offene Wand nach Norden. Die Schädelträger setzten sich ohne Zögern in Bewegung. Sie wußten, was von ihnen verlangt wurde. Sie sollten nach Paranor fliegen und den gefangenen Sohn von Shannara, den einzigen Erben des verhaßten Schwertes, töten. Wenn das letzte Mitglied des Hauses von Shannara tot und das Schwert in ihrem Besitz war, brauchten sie keine mystische Macht mehr zu fürchten. Schon jetzt war das kostbare Schwert unterwegs von den Hallen Paranors zum Nordlandreich, wo es in den endlosen Höhlen des Schädelberges begraben und vergessen werden würde. Der Dämonen-Lord drehte sich ein wenig, um zu verfolgen, wie seine beiden Diener ungeschickt durch die dunkle Kammer schlurften, bis sie die offene Wand erreichten, wo sie sich in den grauen Himmel schwangen und nach Süden flogen. Gewiß, Eventine, der Elfenkönig, würde versuchen, das Schwert abzufangen und für sein eigenes Volk zu erbeuten, aber der Versuch würde scheitern, und Eventine würde gefangengenommen werden - der letzte große Führer der freien Länder, die letzte Hoffnung der Rassen. Sobald Eventine sein Gefangener, das Schwert in seinem Besitz, der letzte Erbe des Hauses von Shannara tot war, hatte der Kampf ein Ende, bevor er richtig angefangen hatte, zumal da der verhaßteste aller Feinde, der Druide Allanon, im Feuerofen von Paranor zugrunde gegangen war. Im Dritten Krieg der Rassen würde es keine Niederlage mehr geben. Er hatte gesiegt.
Ein Wink seines Ärmels, und das Wasser wurde wieder undurchsichtig, das Bild der Druidenfestung und der in der Falle sitzenden Sterblichen verschwand. Dann fauchte die Luft um den schwarzen Geist, und seine Gestalt löste sich wieder auf in den Nebel der Kammer, langsam verblassend, bis nichts blieb als das Becken und der leere Raum. Lange Augenblicke vergingen still, bis endlich die geduckten Diener des Dämonen-Lords sicher waren, daß der Meister sich entfernt hatte. Sie wagten sich hervor aus den Schatten, ihre kleinen, schwarzen Gestalten krochen hastig zum Beckenrand, und sie starrten neugierig hinein, ihr Elend weinend und wimmernd dem Wasser anvertrauend.
Im hohen Turm von Paranor, im fernen und nun unzugänglichen Raum der Druidenfestung, gingen vier stumme, erschöpfte Männer niedergeschlagen in ihrem Gefängnis auf und ab. Nur Durin saß still an einer Wand, von solchen Wundschmerzen gepeinigt, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Balinor wippte auf den Fußballen, vor einem hohen, vergitterten Fenster des Burgverlieses, und sah die schwachen Strahlen der Sonne in langen Streifen tanzenden Staubes die sonst düstere Kammer mit kleinen Lichtquadraten erhellen, die nachlässig auf die Steinplatten am Boden fielen. Sie befanden sich nun seit über einer Stunde hier, in aussichtsloser Gefangenschaft hinter der gigantischen Tür. Das Schwert war für sie verloren, und mit ihm jede Hoffnung auf Sieg. Zuerst hatten sie geduldig gewartet, in dem Glauben, Allanon werde bald erscheinen und die große Steinbarriere zerschmettern, um ihnen den Weg in die Freiheit zu bahnen. Sie hatten sogar seinen Namen gerufen, damit er sie höre und ihnen in den Turm folge. Menion hatte sie daran erinnert, daß Flick noch vermißt sei und vielleicht durch die Hallen von Paranor irre, auf der Suche nach ihnen. Aber bald war ihre Hoffnung verblaßt und schließlich ganz erloschen, als jeder einzelne sich eingestand, daß es keine Rettung geben würde, daß der tapfere Druide und der kleine Talbewohner den tödlichen Schädelträgern zum Opfer gefallen waren, daß der Dämonen-Lord gesiegt hatte.