Das Gras war ein hohes, peitschenartiges Kraut von solcher Zähigkeit, daß es mit schmerzender Kraft an die Hosenbeine der Männer schlug. Wenn es von den schweren Stiefeln niedergetreten wurde, richtete es sich Sekunden später wieder auf. Shea schaute in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und konnte nirgends erkennen, daß hier schon andere Leute durchgekommen waren. Die verstreut stehenden Bäume waren knorrig und verkrümmt, voll kleiner Blätter, aber sie wirkten wie Stiefkinder der Natur, verkümmert schon von Geburt an. Von Tieren oder Vögeln war keine Spur zu sehen, und seit der Morgendämmerung war den drei Männern kein anderes Lebewesen begegnet.
Es mangelte jedoch nicht an Gesprächsstoff. Einige Male wünschte Shea sich sogar, Panamon Creel möge seiner eigenen Stimme überdrüssig werden und schweigen. Der hochgewachsene Dieb sprach beinahe unaufhörlich mit seinen Begleitern, mit sich selbst und bei Gelegenheit mit niemandem. Er sprach über alles mögliche, auch über viele Dinge, von denen er offenkundig nichts verstand. Das einzige Thema, das er bewußt mied, war Shea selbst. Er tat so, als sei der junge Mann ein Spießgeselle, ein Komplice, mit dem er offen über seine Erlebnisse sprechen konnte. Er vermied es aber sorgfältig, über Sheas Herkunft, die Elfensteine oder das Ziel der Reise zu sprechen. Anscheinend hielt er es für das Beste, den lästigen Talbewohner so schnell wie möglich nach Paranor zu bringen und dann das Weite zu suchen.
Shea hatte keine Ahnung, wohin die beiden vorher gewollt hatten.
Vielleicht waren sie sich darüber selbst nicht im klaren gewesen.
Die Situation war schwierig genug, dachte er; die Diebe wußten so gut wie er, daß er versuchen würde, ihnen die Steine wieder abzunehmen. Fraglich war nur noch die Art und Weise.
Gelegentlich warf Shea einen Blick auf den stummen Berg-Troll und fragte sich, was für eine Person hinter dem ausdruckslosen Äußeren verborgen sein mochte. Der Troll zeigte eine Haltung von unbestreitbarer Würde, und in den tiefliegenden Augen funkelte eine Intelligenz, die Shea zu der Ansicht gelangen ließ, daß Keltset weitaus vielschichtiger sein mochte, als sein Begleiter annahm oder zumindest bekundet hatte. Wie bei Allanon hatte Shea das Gefühl, daß Panamon Creel ihm nicht die ganze Wahrheit verraten hatte. Aber im Gegensatz zu dem Druiden war der Dieb wohl ein Lügner, bei dem man kaum etwas für bare Münze nehmen durfte. Allerdings wurde Shea auch nicht das Gefühl los, daß der Scharlachrote mehr sein mochte als ein simpler Straßenräuber.
Sie brachten das Mittagsmahl schnell hinter sich. Während Keltset ihr Kochgerät einpackte, erklärte Panamon Shea, daß sie nicht mehr weit vom Jannisson-Paß an der Nordgrenze des Hügellandes entfernt seien. Nach dem Paß würden sie die Ebenen von Streleheim durchqueren, um in westlicher Richtung nach Paranor zu gelangen. Dort würden sie sich trennen, betonte der Dieb, und Shea könne sich mit seinen Freunden vereinigen oder zur Druidenfestung gehen, ganz nach Belieben. Shea nickte stumm und räumte seine Sachen zusammen. Sie marschierten weiter zu den niedrigen Bergen, die vor ihnen auftauchten. Shea war überzeugt davon daß das ferne Gebirge zur Linken ein Ausläufer der Drachenzähne war, aber die Bergkette hatte ein gänzlich anderes Aussehen, und zwischen den beiden Gebirgszügen mußte der Jannisson-Paß liegen. Sie waren dem Nordland sehr nah gekommen, und für Shea gab es keine Umkehr.
Panamon Creel erzählte wieder ausführlich von seinen Abenteuern.
Seltsamerweise erwähnte er Keltset dabei kaum, ein weiterer Hinweis für Shea, daß der Räuber weniger über den Berg-Troll wußte, als er vorgab. Shea gewann langsam den Eindruck, daß der Troll für den Scharlachroten ein ebensolches Rätsel war wie für ihn. Der Troll war Shea zwar vorher wie ein hundeähnlicher Begleiter des Diebes erschienen, aber bei näherer Betrachtung gewann Shea den Eindruck, daß er aus ganz anderen Gründen mit dem Scharlachroten unterwegs war. Shea rätselte über die stolze Haltung und distanzierte Art des Trolls. Keltset hatte die Gnomen schnell und rücksichtslos niedergemacht, aber im Rückblick sah es ganz so aus, als habe er das getan, weil es sein mußte - nicht, um seinen Begleiter zu befriedigen oder die Steine in seinen Besitz zu bringen. Shea vermochte nicht zu erkennen, was Keltset in Wirklichkeit sein mochte, aber ganz gewiß war er kein unterdrückter, ausgestoßener Einzelgänger.
Der Tag war besonders warm, und Shea begann heftig zu schwitzen. Das Gelände wurde keineswegs ebener, und es war mühsame, langwierige Arbeit, die Höhen zu überwinden. Panamon redete fast ununterbrochen und lachte und scherzte mit Shea, als seien sie alte Freunde. Shea hörte sich pflichtgetreu die Geschichten über Panamons Frauen an, worunter auch eine schöne Königstochter gewesen sein sollte, die der Räuber nur verloren hatte, weil ihr Vater dazwischengetreten war und sie in ein fernes Land geschickt hatte. Shea seufzte mitleidig, aber lachte innerlich, als Panamon behauptete, er sei noch immer auf der Suche nach ihr.
Etwa zwei Stunden später erreichten sie den Paß, eine Lücke zwischen den zwei Bergzügen, breit und leicht zugänglich. Shea wußte, daß das Charnal-Gebirge, die Heimat der Berg-Trolle, nördlich von ihnen lag und die rechte Bergkette ein Ausläufer davon sein mußte. Die trostlosen und nahezu unerforschten Gipfel waren seit Jahrhunderten eine riesige Wildnis, bewohnt allein von den grimmigen und kriegerischen Trollen. Die Berg-Trolle waren die größte Gattung dieser Art, und es gab noch mehrere andere, die in diesem Teil des Nordlandes lebten. Wenn Keltset zu den Berg-Trollen gehörte, vermutete Shea, daß sie intelligenter sein mußten, als die Südländer annahmen. Es erschien ihm seltsam, daß seine eigenen Landsleute so wenig über eine andere Rasse wußten, die ihre Welt mit bewohnte. Selbst die Schulbücher hatten die Trolle als unwissende und unzivilisierte Völker bezeichnet.
Panamon gebot am Zugang zum breiten Paß Halt und ging einige Schritte voraus, wachsam auf die hohen Hänge zu beiden Seiten blickend. Nach einigen Minuten schickte er Keltset voraus.
Der Riesentroll setzte sich in Bewegung und verschwand zwischen den Felsen. Panamon schlug Shea vor, sich zu setzen, und lächelte selbstzufrieden angesichts seiner Schlauheit, die ihn hieß, eine mögliche Falle von Sheas Freunden rechtzeitig auszumachen.
Redselig begann der Scharlachrote, von einem neuen Abenteuer zu erzählen, das Shea wie die anderen unglaublich und maßlos übertrieben fand. Er dachte an seine Freunde, die er schnell würde finden müssen, wenn er hoffen wollte, in diesem Gebiet zu überleben. Der Dämonen-Lord und seine Gehilfen würden überall nach ihm suchen, und wenn sie ihn entdeckten, bevor er bei Allanon und den anderen Zuflucht gefunden hatte, war sein Tod gewiß. Immerhin, es bestand die Möglichkeit, daß sie inzwischen die Druidenfestung eingenommen und das kostbare Schwert von Shannara an sich gebracht hatten.
Keltset tauchte plötzlich im Paß auf und winkte ihnen. Sie eilten zu ihm und gingen mit ihm weiter. Es gab im Paß wenig Deckung, die einen Hinterhalt ermöglicht hätte, und sie sahen bald, daß an dieser Stelle wohl kaum Gefahr drohte. Die drei Wanderer brauchten fast eine Stunde, um den langgezogenen Paß zu überwinden, aber der Weg war angenehm, und die Zeit verging schnell. Als sie das nördliche Ende erreichten, sahen sie Ebenen weit hinausreichen und dahinter wieder eine Bergkette aufragen, die nach Westen zu verlaufen schien. Sie marschierten hinaus auf das ebene Gelände, das auf drei Seiten von Bergen und Wäldern umgeben war und sich nach Osten öffnete. Die Ebene war bewachsen mit einem dünnen, hellgrünen Gras, das in zottigen Büscheln aus der trockenen Erde ragte. Es gab kleine Gebüsche, alle nur kniehoch für Shea, dürre und krumme Gewächse. Anscheinend wurden die Ebenen sogar im Frühling nicht saftig grün, und es existierte hier wenig Leben.
Shea wußte, daß sie sich ihrem Ziel näherten, als Panamon die kleine Gruppe nach Westen führte, einige hundert Meter nördlich des Waldes und Gebirges zu ihrer Linken, um gegen Überraschungsangriffe gesichert zu sein. Als Shea den Scharlach-roten fragte, wo Paranor liege, lächelte der Dieb nur und sagte, sie kämen immer näher darauf zu. Shea gab es auf, Fragen zu stellen, und betrachtete stattdessen seine Umgebung, die für ihn eine ganz neue Welt darstellte. Er hatte zwar Angst um sein Leben, war aber entschlossen, sich nichts entgehen zu lassen. Das war die fabelhafte Odyssee, von der Flick und er früher immer geträumt hatten.