Shea entdeckte erst jetzt den Sack, der halb offen auf der anderen Seite der Lichtung lag. Seltsam, daß Orl Fane seine Schätze zurückgelassen haben sollte, nach all dem Geschrei und Gewinsel.
Der nutzlose Sack war ihm so wichtig gewesen, und nun lag er vergessen im Gras. Shea ging darauf zu und starrte ihn argwöhnisch an. Er leerte den Inhalt auf den Waldboden; die Schwerter und Dolche und Schmuckstücke klirrten, als sie auf einen Haufen fielen. Shea starrte sie an und nahm wahr, daß Keltset neben ihm auftauchte. Sie starrten beide den Besitz des Gnomen an, als berge er ein großes Geheimnis. Panamon beobachtete sie kurze Zeit, dann murrte er angewidert etwas vor sich hin und kam heran.
»Machen wir uns auf den Weg«, sagte er. »Wir müssen deine Freunde finden, Shea, und vielleicht finden wir mit ihrer Hilfe auch das geheimnisvolle Schwert. Was starrst du den Kram so an? Du hast das wertlose Zeug doch schon gesehen. Es hat sich nicht verändert.«
Da sah Shea es.
»Doch«, sagte er. »Es ist fort. Er hat es mitgenommen.«
»Was ist fort?« sagte Panamon gereizt und gab dem Haufen einen Tritt. »Wovon redest du?«
»Das alte Schwert in der Lederscheide. Das mit der Fackel und dem Arm.«
Panamon sah sich die Schwerter auf dem Haufen hastig an und zog die Brauen zusammen. Keltset richtete sich plötzlich auf und sah Shea mit seinen tiefliegenden Augen an. Auch er hatte begriffen.
»Er hat also ein Schwert genommen«, knurrte Panamon. »Das heißt nicht, daß er...« Er verstummte, und sein Unterkiefer klappte herunter, seine Augen verdrehten sich ungläubig. »O nein! Das kann nicht sein - das darf nicht sein. Du meinst, er hat -?« Er erstickte an seinen eigenen Worten. Shea schüttelte in stiller Verzweiflung den Kopf.
»Das Schwert von Shannara!«
21
Derselbe Morgen, der Shea und seine neuen Begleiter vor der schrecklichen Wahrheit über den geflohenen Orl Fane und das Schwert von Shannara sah, fand auch Allanon und die restlichen Mitglieder der Gemeinschaft vor neuen Schwierigkeiten. Sie waren unter der sicheren Führung des schwarzen Wanderers aus der Druidenfestung entkommen, hinab durch das Tunnellabyrinth in das Innere des Berges, und von dort aus zurück in den Wald.
Sie waren bei ihrer Flucht auf keinen Widerstand gestoßen und nur vereinzelten Gnomen begegnet, die durch die Gänge huschten, Überreste der Palastwachen, die schon vorher geflohen waren.
Es war früher Abend, bis der kleine Trupp die unheimlichen Höhen hinter sich hatte und nach Norden durch die Wälder zog.
Allanon war überzeugt davon, daß die Gnomen das Schwert von Shannara schon einige Zeit vor dem Zusammentreffen mit dem Schädelträger im Feuerofen fortgeschafft hatten, vermochte aber nicht genau zu sagen, wann das der Fall gewesen sein konnte.
Eventine patrouillierte an der Nordgrenze von Paranor, und jeder Versuch, das Schwert wegzuschaffen, würde auf den Widerstand seiner Soldaten stoßen. Vielleicht hatte der Elfenkönig das Schwert sogar schon in seinen Besitz gebracht, vielleicht auch den vermißten Shea gefunden. Allanon machte sich schwere Sorgen um den kleinen Talbewohner, den er in der Festung vorzufinden gehofft hatte. Eine Täuschung war nicht möglich gewesen, als er mit seinem Geist den Jungen am Fuß der Drachenzähne gesucht hatte. Shea war in Begleitung anderer gewesen und mit ihnen Richtung Norden, nach Paranor, gezogen. Irgendetwas mußte sie aufgehalten haben. Immerhin, Shea war ein einfallsreicher Bursche, und die Macht der Elfensteine würde ihn vor dem Dämonen-Lord schützen. Der Druide konnte nur hoffen, daß sie einander wieder finden würden und Shea inzwischen nichts Schlimmes zustieß.
Allanon plagten jedoch andere Sorgen, die seine Aufmerksamkeit jetzt beanspruchten. Die Gnomen holten Verstärkungen in großer Zahl herbei, und sie brauchten nicht lange zu dem Schluß, daß Allanon und sein kleiner Trupp von Eindringlingen aus der Burg geflüchtet waren und sich irgendwo im gefährlichen Wald um Paranor aufhalten mußten. In Wahrheit wußten die Gnomen nicht, nach wem sie suchten; sie wußten nur, daß die Burg überfallen worden war und die Eindringlinge gefaßt oder getötet werden mußten. Die Boten des Dämonen-Lords waren noch nicht eingetroffen, und der Schädelkönig selbst ahnte noch nicht, daß ihm seine Beute einmal mehr entwischt war. Er ruhte zufrieden in den dunklen Nischen seines Reiches, überzeugt davon, daß der Störenfried Allanon im Feuerofen von Paranor umgekommen war, daß der Erbe von Shannara und seine Begleiter in der Falle saßen und das Schwert von Shannara sich auf dem sicheren Weg nach Norden befand, abgefangen diesmal von einem Schädelträger, den er einen Tag zuvor weggeschickt hatte, um dafür zu sorgen, daß das kostbare Schwert nicht von neuem zurückerobert wurde. Die neu eingetroffenen Gnomen begannen daher die Wälder um Paranor zu durchkämmen, um die unbekannten Eindringlinge zu finden, von denen sie glaubten, sie seien auf der Flucht nach Süden, Anlaß genug, den Großteil der Jäger in diese Richtung zu schicken.
Allanon und sein kleiner Haufe zogen aber weiter nach Norden.
Von Zeit zu Zeit wurden sie aufgehalten, wenn kleinere Suchtrupps der Gnomen auftauchten. Die Gruppe wäre niemals unentdeckt davongekommen, hätte sie den Weg nach Süden genommen, aber im Norden verdünnte sich das Suchpersonal so sehr, daß es den Flüchtenden gelang, sich vor den Jägern zu verbergen, um dann wieder weiterzumarschieren, sobald die Gnomen verschwunden waren. Es wurde hell, als sie den Waldrand erreichten und auf die riesigen Ebenen von Streleheim hinausblickten, die Verfolger vorübergehend hinter sich.
Allanon wandte sich ihnen zu, das Gesicht angespannt und grimmig; seine Augen leuchteten jedoch vor Entschlossenheit.
Er sah die Begleiter der Reihe nach an und begann endlich zu sprechen.
»Wir haben das Ende des Weges erreicht, meine Freunde. Die Reise nach Paranor ist vorbei, und es wird Zeit, daß wir uns trennen und jeder seiner eigenen Wege geht. Wir haben unsere Chance vertan, das Schwert in unseren Besitz zu bringen – zumindest für den Augenblick. Shea ist immer noch vermißt, und wir können nicht sagen, wie lange es dauern mag, ihn zu finden.
Aber die größte Bedrohung für uns ist eine Invasion aus dem Norden. Wir müssen uns und die Völker der Länder südlich, östlich und westlich von uns davor schützen. Wir haben nichts von den Elfen-Armeen Eventines gesehen, obwohl sie eigentlich in diesem Gebiet auf Wacht sein müßten. Es hat den Anschein, daß sie zurückgezogen worden sind, und das konnte nur geschehen, wenn der Dämonen-Lord damit begonnen hat, seine Armeen nach Süden zu werfen.«
»Dann hat die Invasion schon begonnen?« fragte Balinor.
Allanon nickte düster, und die anderen wechselten erschrockene Blicke.
»Ohne das Schwert können wir den Dämonen-Lord nicht besiegen, also müssen wir versuchen, seine Armeen vorher aufzuhalten.
Dazu müssen wir die freien Nationen rasch einen. Es mag schon zu spät sein. Brona wird seine Armeen dazu gebrauchen, das ganze zentrale Südland zu erobern. Dazu braucht er nur die Grenzlegion von Callahorn zu vernichten. Balinor, die Legion muß die Städte von Callahorn halten, damit die Nationen Zeit haben, ihre Armeen zu vereinigen und gegen die Eindringlinge loszuschlagen. Durin und Dayel können Euch nach Tyrsis begleiten und von dort nach Westen zu ihrem eigenen Land ziehen.
Eventine muß seine Elfen-Armeen durch die Ebenen von Streleheim führen, um Tyrsis zu verstärken. Wenn wir dort unterliegen, wird es dem Dämonen-Lord gelungen sein, einen Keil zwischen die Armeen zu treiben, und dann besteht wenig Aussicht, sie zusammenzuführen. Schlimmer noch, das ganze Südland wird offen und ungeschützt daliegen. Die Menschen werden nicht mehr in der Lage sein, ihre Armeen rechtzeitig aufzustellen.
Die Grenzlegion von Callahorn ist die einzige Chance, die sie haben.«
Balinor nickte zustimmend und wandte sich an Höndel.
»Welche Unterstützung können uns die Zwerge geben?«