»Die Stadt Varfleet ist der Schlüssel zum östlichen Sektor von Callahorn.« Höndel dachte gründlich nach. »Mein Volk muß jeden Angriff durch den Anar abwehren, aber wir können genug Leute entbehren, um auch Varfleet verteidigen zu helfen. Die Städte Kern und Tyrsis müßt Ihr jedoch allein halten.«
»Im Westen unterstützen Euch die Elfen-Armeen«, versprach Durin schnell.
»Augenblick!« rief Menion erstaunt. »Was ist mit Shea? Den habt ihr wohl vergessen, wie?«
»Ihr redet immer noch, bevor Ihr nachdenkt«, sagte Allanon dumpf. Menion wurde dunkelrot vor Zorn, hielt sich aber zurück.
»Ich gebe die Suche nach meinem Bruder nicht auf«, erklärte Flick ruhig.
»Das verlange ich auch gar nicht, Flick.« Allanon lächelte schwach. »Du und Menion und ich, wir setzen die Suche nach unserem jungen Freund und dem verschwundenen Schwert fort.
Wo der eine ist, wird auch das andere sein, vermute ich. Denk an die Worte, die Brimens Schatten zu mir gesprochen hat. Shea wird der erste sein, der die Hand auf das Schwert von Shannara legt. Vielleicht hat er es schon getan.«
»Dann setzen wir unsere Suche fort«, sagte Menion gereizt. Er mied den Blick des Druiden.
»Wir gehen gleich«, erklärte Allanon und fügte mit Betonung hinzu, »aber Ihr müßt darauf achten, Eure Zunge mehr im Zaum zu halten. Ein Prinz von Leah sollte mit Weisheit und Voraussicht sprechen, mit Geduld und Verständnis - nicht in närrischem Zorn.«
Menion nickte widerwillig. Die sieben verabschiedeten sich mit gemischten Gefühlen voneinander und trennten sich. Balinor, Höndel und die Elfenbrüder wandten sich nach Westen, vorbei an dem Wald, in dem Shea und seine Begleiter die Nacht verbracht hatten, in der Hoffnung, den undurchdringlichen Wald zu umgehen, durch das Hügelland nördlich der Drachenzähne zu gelangen und so Kern und Tyrsis binnen zwei Tagen zu erreichen. Allanon und seine zwei jugendlichen Begleiter gingen nach Osten und suchten nach einer Spur von Shea. Allanon war überzeugt davon, daß Shea schließlich doch nach Norden, auf Paranor zu, gekommen sein mußte und vielleicht in einem der Gnomenlager in diesem Gebiet Gefangener war. Ihn zu befreien würde nicht einfach sein, aber der Druide fürchtete vor allem, daß der Dämonen-Lord von seiner Gefangennahme erfahren und seine sofortige Hinrichtung befehlen würde. Dann verlor das Schwert von Shannara für sie jeden Wert, und es würde ihnen nichts anderes übrigbleiben, als sich auf die Stärke der geteilten Armeen in den drei belagerten Ländern zu verlassen. Kein erfreulicher Gedanke, und Allanon wandte seine Aufmerksamkeit der Umgebung zu. Menion hatte einen kleinen Vorsprung, achtete auf den Weg und die Spuren aller, die hier vorbeigekommen waren. Ihn beschäftigte vor allem das Wetter. Wenn es regnete, würden sie die Fährte nie finden. Selbst wenn ihnen das Wetter günstig gesonnen blieb, würden die plötzlichen Stürme, die über die Streleheim-Ebene bliesen, nicht anders wirken als der Regen. Flick, der als letzter in der Reihe ging, brütete vor sich hin und hoffte gegen jede Erwartung, ein Zeichen von Shea zu finden.
Am Mittag schimmerte die unfruchtbare Ebene unter der sengenden Hitze der weißglühenden Sonne, und die drei Wanderer hielten sich so nah am Waldrand wie möglich, um vom Schatten der hohen Bäume ein wenig zu erhaschen. Allein Allanon schien unbeeindruckt von der drückenden Hitze. Sein dunkles Gesicht war ruhig und entspannt im glühenden Sonnenlicht, ohne jeden Schweißtropfen. Flick fühlte sich dem Zusammenbruch nahe, und selbst dem zähen Menion Leah wurde übel. Seine scharfen Augen waren wie ausgetrocknet, und seine Sinne fingen an, ihm Streiche zu spielen. Er sah Dinge, die es nicht gab, hörte und roch Erscheinungen, die sein erschöpftes Gehirn auf die flimmernde Ebene zauberte.
Endlich konnten die beiden Südländer nicht mehr weiter, und ihr hochgewachsener Anführer machte Halt und führte sie in den kühlenden Schatten des Waldes. Stumm verzehrten sie eine kleine Mahlzeit aus Brot und Trockenfleisch. Flick fühlte sich seit der Trennung von den anderen sonderbar allein. Er war nie zu einem engen Verhältnis mit Allanon gelangt, und stets plagten ihn nagende Zweifel an den unheimlichen Kräften des Druiden.
Der Zauberer blieb eine riesenhafte, rätselhafte Gestalt, so geheimnisvoll und tödlich wie die Schädelträger, von denen sie so unbarmherzig verfolgt wurden. Im Grunde gehörte er eher zum Reich des Dämonen-Lords, jenem schwarzen, schrecklichen Winkel des Geistes, wo die Angst herrscht und der Vernunft kein Zutritt gewährt wird. Flick konnte den entsetzlichen Kampf zwischen Allanon und dem heimtückischen Schädelwesen nicht vergessen, der in den Flammen des Feuerofens zu einem grausigen Höhepunkt gekommen war. Aber Allanon war in der Lage gewesen, sich zu retten; er hatte überlebt, was keinem anderen Menschen gelungen wäre. Es war mehr als nur unheimlich – es war schreckenerregend. Balinor allein schien in der Lage gewesen zu sein, sich gegen den riesenhaften Anführer aufzulehnen, aber er war fort, und Flick kam sich deshalb einsam und verlassen vor.
Menion Leah fühlte sich nicht weniger unsicher. Er hatte im Grunde keine Angst vor dem mächtigen Druiden, spürte aber, daß der Riese nicht viel von ihm hielt und ihn vor allem deswegen mitgenommen hatte, weil Shea es so wünschte. Shea hatte an den Prinzen von Leah geglaubt, als selbst Flick von Zweifeln befallen worden war, was die Motive des Abenteurers anging. Aber Shea war nicht mehr da. Menion fühlte, daß er den Druiden nur noch einmal richtig zu reizen brauchte, um seinen eigenen Untergang heraufzubeschwören. Er saß still und sann vor sich hin.
Als die stumme Mahlzeit beendet war, winkte ihnen der Druide. Wieder marschierten sie am Wald entlang nach Osten, die Gesichter im gleißenden Sonnenschein, während ihre erschöpften Augen die nackte Ebene nach dem verschwundenen Shea absuchten. Diesmal waren sie erst eine Viertelstunde unterwegs, als sie auf etwas Ungewöhnliches stießen. Menion entdeckte die Spuren. Eine große Anzahl von Gnomen war vor Tagen diesen Weg entlanggekommen, gestiefelt und wohl auch bewaffnet. Sie folgten der Fährte etwa eine halbe Meile nach Norden. Hinter einer Anhöhe fanden sie die Überreste der Gnomen und Elfen, die im Kampf gefallen waren. Die verrottenden Leiber lagen, wo sie hingestürzt waren, unberührt und nicht begraben, keine hundert Meter von der Anhöhe entfernt. Die drei Männer stiegen langsam hinab zu dem Friedhof ausgebleichter Gebeine und faulenden Fleischs, und der entsetzliche Gestank drang ihnen in Wellen entgegen. Flick konnte nicht mehr weiter und sah den anderen nach, als sie unter die Toten traten.
Allanon ging in stiller Versunkenheit zwischen den Leichen umher, betrachtete am Boden liegende Waffen und Standarten und blickte nur kurz auf die Gefallenen. Menion entdeckte wenig später eine neue Spur und lief mechanisch auf dem Schlachtfeld herum, den Blick auf die staubige Erde gerichtet. Flick konnte von seinem Platz aus nicht genau erkennen, was sich abspielte, aber Menion blieb mehrmals stehen, suchte mit beschatteten Augen nach neuen Spuren und wandte sich endlich nach Süden zum Wald. Er kam langsam zu Flick zurück, den Kopf gesenkt.
Er blieb an einem dichten Gebüsch stehen und ließ sich auf ein Knie nieder, um eine Stelle näher zu betrachten. Flick eilte ihm nach. Er hatte ihn eben erreicht, als Allanon, der in der Mitte des Kampfplatzes stand, einen Überraschungsruf ausstieß. Die beiden anderen hoben die Köpfe und warteten stumm, während die schwarze Gestalt sich bückte, sich plötzlich umdrehte und zu ihnen zurückeilte. Das Gesicht Allanons war vor Erregung gerötet, als er sie erreichte, und sie sahen erleichtert, wie das vertraute spöttische Lächeln sich zu einem freudigen Grinsen ausbreitete.
»Erstaunlich! Wirklich erstaunlich. Unser junger Freund ist einfallsreicher, als ich dachte. Ich habe ein kleines Aschenhäufchen gefunden - alles, was von einem der Schädelträger übriggeblieben ist. Nichts Sterbliches hat dieses Wesen vernichtet. Es war die Kraft der Elfensteine.«
»Dann ist Shea vor uns hier gewesen!« entfuhr es Flick.