»Die Lage ist ernster, als ich dachte«, fuhr Allanon mit rauher Stimme fort. »Die gesamte Nordland-Armee scheint sich an dieser einen Stelle zusammenzudrängen, um den Schlag gegen Callahorn zu führen. Brona beabsichtigt, dem Südland sofort jeden Widerstandsgedanken auszutreiben. Er fährt zwischen die besser ausgerüsteten Armeen im Osten und Westen hinein, damit er sie sich einzeln vornehmen kann. Der Böse hält bereits das ganze Gebiet nördlich von Callahorn. Balinor und die anderen müssen gewarnt werden.« Er verstummte und sah Menion Leah an.
»Ich kann jetzt nicht fort«, stieß Menion hervor. »Ich muß euch helfen, Shea zu finden.«
»Wir haben keine Zeit, über die Dringlichkeit der einzelnen Probleme zu streiten«, sagte Allanon beinahe drohend und zielte mit dem Finger auf das Gesicht des Hochländers. »Wenn Balinor nicht gewarnt wird, fällt Callahorn, und das ganze Südland folgt ihm, einschließlich Leah. Es wird Zeit, daß Ihr an Euer eigenes Volk denkt. Shea ist nur ein einzelner Mensch, und im Augenblick könnt Ihr nichts für ihn tun. Aber Ihr könnt etwas tun für die vielen tausend Südländer, die im Begriff stehen, vom Dämonen-Lord versklavt zu werden, wenn Callahorn überrannt wird!« Allanons Stimme klang so kalt, daß es Flick schauderte.
Er spürte, daß sich Menion neben ihm innerlich aufbäumte, aber der Prinz von Leah blieb bei dieser scharfen Rüge stumm. Druide und Prinz starrten einander minutenlang in der Dunkelheit an, dann senkte Menion plötzlich den Kopf und nickte kurz. Flick seufzte erleichtert.
»Ich gehe nach Callahorn und warne Balinor«, murmelte Menion mit unterdrücktem Zorn, »aber ich komme wieder und suche euch.«
»Tut, was Ihr beliebt, wenn Ihr die anderen gefunden habt«, entgegnete Allanon eisig. »Aber jeder Versuch, sich durch die feindlichen Linien durchzuschlagen, wäre bestenfalls Torheit.
Flick und ich werden versuchen, zu erfahren, was mit Shea und dem Schwert geschehen ist. Wir lassen ihn nicht im Stich, Hochländer, das verspreche ich Euch.«
Menion sah ihn scharf an, beinahe mißtrauisch, aber die Augen des Druiden beantworteten seinen Blick offen und frei. Er log nicht.
»Haltet Euch an die kleineren Berge, bis Ihr an den Vorposten des Feindes vorbei seid«, riet ihm der schwarze Wanderer leise.
»Wenn Ihr den Mermidon-Fluß über Kern erreicht, geht dort hinüber und betretet die Stadt, bevor es hell wird. Ich vermute, daß die Nordland-Armee zuerst Kern angreifen wird. Es besteht wenig Aussicht, die Stadt gegen eine Streitmacht von dieser Größe erfolgreich zu verteidigen. Man sollte die Bewohner evakuieren und nach Tyrsis bringen, bevor die Invasoren ihnen den Weg abschneiden können. Tyrsis ist auf einer Hochebene an einem Bergrücken erbaut. Wenn es richtig verteidigt wird, kann es mindestens mehrere Tage lang jeden Angriff abschlagen. Das sollte Durin und Dayel Zeit geben, ihre Heimat zu erreichen und mit der Elfen-Armee zurückzukommen. Aus dem Osten sollte Höndel Unterstützung bringen können. Vielleicht kann Callahorn lange genug gehalten werden, so daß die Armeen der drei Länder mobilisiert und vereinigt gegen den Dämonen-Lord loszuschlagen vermögen. Das ist die einzige Chance, die wir ohne das Schwert von Shannara haben.«
Menion nickte, drehte sich herum und hielt Flick die Hand hin. Flick lächelte schwach und drückte sie fest.
»Viel Glück, Menion Leah.«
Allanon trat vor und legte die Hand auf die Schulter des Prinzen.
»Vergeßt nicht, Prinz, wir verlassen uns auf Euch. Dem Volk von Callahorn muß die Gefahr, in der es schwebt, vor Augen geführt werden. Wenn es zögert, ist es verloren, und mit ihm das ganze Südland. Tut Eure Pflicht!«
Menion drehte sich abrupt um und glitt wie ein Schatten davon.
Der riesenhafte Druide und der kleine Talbewohner sahen ihm stumm nach. Als er verschwunden war, starrten sie Minuten stumm vor sich hin. Schließlich wandte Allanon sich Flick zu.
»Uns bleibt die Aufgabe, herauszufinden, was mit Shea und dem Schwert geschehen ist.« Er setzte sich schwerfällig auf einen Felsblock, und Flick trat näher heran. »Ich mache mir auch Sorgen um Eventine. Die zerbrochene Standarte auf dem Schlachtfeld war sein persönliches Banner. Er könnte gefangen genommen worden sein, und wenn das der Fall ist, zögert die Elfen-Armee vielleicht, bis er wieder befreit ist. Seine Leute lieben ihn zu sehr, als daß sie sein Leben aufs Spiel setzen würden, und sei es um der Rettung des Südlandes willen.«
»Ihr meint, den Elfen ist gleichgültig, was mit den Menschen des Südlandes geschieht?« stieß Flick fassungslos hervor. »Wissen sie nicht, was ihnen bevorsteht, wenn das Südland dem Dämonen-Lord zum Opfer fällt?«
»Es ist nicht ganz so einfach, wie es aussehen mag«, erklärte Allanon seufzend. »Jene, die Eventine folgen, erkennen die Gefahr, aber es gibt andere, die der Meinung sind, die Elfen sollten sich aus den Angelegenheiten fremder Länder heraushalten, solange man nicht selbst angegriffen oder bedroht wird. Ohne Eventines Anwesenheit wird die Entscheidung nicht so klar sein, und die Diskussion darüber, was richtig und angemessen sei, mag das Eingreifender Elfen-Armee hinauszögern, bis es zu spät ist.«
Flick nickte langsam und dachte an die Zeit in Culhaven, als Höndel verbittert Ähnliches von den Bewohnern der Südland-Städte berichtet hatte. Es erschien unfaßbar, daß man im Angesicht solcher Gefahren derart unentschlossen und wirrköpfig sein konnte. Aber Shea und er selbst hatten nicht anders reagiert, als sie das erstemal von Sheas Geburtsrecht und der Bedrohung durch die Schädelträger erfahren hatten. Erst als eines der Wesen erschienen war, auf der Suche nach ihnen...
»Ich muß wissen, was in dem Lager vorgeht.« Allanons Stimme unterbrach Flicks Gedankengang. Der Druide sah den kleinen Talbewohner nachdenklich an. »Mein junger Freund Flick...« Er lächelte schwach in der Dunkelheit. »Was hältst du davon, für eine Weile einen Gnomen zu mimen?«
22
Während Shea nach wie vor irgendwo nördlich der Drachenzähne vermißt wurde und Allanon, Flick und Menion nach einer Spur von ihm suchten, gelangten die vier anderen Mitglieder des geteilten Trupps in Sichtweite der hohen Türme von Tyrsis, der Festungsstadt. Sie hatten fast zwei Tage angestrengten Marschierens gebraucht, und ihre gefährliche Reise durch die Linien der Nordland-Armee war noch zusätzlich behindert worden durch die mächtige Gebirgsbarriere, die das Südland-Reich Callahorn von Paranor trennte. Der erste Tag war lang, verlief aber ohne Zwischenfälle, und sie erreichten durch die Wälder neben dem von Gnomen durchstreiften Undurchdringlichen Wald das Tiefland, die Schwelle zu den gewaltigen Drachenzähnen.
Die Bergpässe waren alle streng bewacht von Gnomenjägern, und es hatte den Anschein, als werde man ohne Kampf nicht an ihnen vorbeikommen. Ein kleines Täuschungsmanöver lockte jedoch die meisten der Wachen vom Zugang zum hohen, geschlängelten Kennon-Paß, so daß die vier ins Gebirge gelangen konnten. Die schwierige Aufgabe, am Südende wieder herauszukommen, wurde erst bewältigt, als man an einem Kontrollposten in der Mitte mehrere Gnomen lautlos getötet und weitere zwanzig so verschreckt hatte, daß sie glaubten, die gesamte Grenzlegion von Callahorn stürme den Paß und stürze «ich mordlustig auf die armen Wachen. Höndel lachte danach so heftig, daß sie im Wald südlich des Kenneon-Passes vorübergehend stehenbleiben mußten, bis er seine Fassung wiedergewann.
Durin und Dayel blickten einander zweifelnd an, als sie an die grimmige Miene und wortkarge Art des Zwerges auf der Reise nach Paranor dachten. Sie hatten ihn nie über etwas lachen sehen, und Fröhlichkeit schien auch gar nicht zu ihm zu passen. Sie schüttelten ungläubig die Köpfe und blickten Balinor fragend an, der aber nur die Achseln zuckte. Er war ein alter Freund Höndels und kannte die wechselhafte Art des Zwerges. Es war gut, wieder ein Lachen zu hören.
Im Dämmerlicht des frühen Abends, während die Sonne am endlosen Horizont der westlichen Ebenen in dunstigem Rot leuchtete, standen die vier vor ihrem Ziel. Sie waren ausgelaugt und erschöpft, ihre sonst wachen Gehirne betäubt vom mangelnden Schlaf und der unaufhörlichen Anstrengung, aber ihre Stimmung hob sich in freudiger Erregung, als sie die majestätische Stadt erblickten. Sie blieben einen Augenblick am Rand der Wälder stehen, die von den Drachenzähnen in südlicher Richtung durch Callahorn verliefen. Im Osten lag die Stadt Varfleet, die den einzigen größeren Durchgang durch das Runne-Gebirge bewachte, eine kleine Bergkette oberhalb des berühmten Regenbogen-Sees. Der träge Mermidon-Fluß wand sich durch den Wald in ihrem Rücken. Im Westen lag die kleinere Inselstadt Kern, und der Ursprung des Flusses befand sich weiter westlich in der riesigen Leere der Streleheim-Ebenen. Der Fluß war durchgehend sehr breit und bildete eine natürliche Barriere gegen jeden Feind, also bot er auch zuverlässigen Schutz für die Bewohner der Insel. Wenn der Fluß hohen Wasserstand hatte, was fast das ganze Jahr über der Fall war, strömte er tief und schnell dahin, und noch war es keinem Feind gelungen, die Inselstadt einzunehmen.