Die Grenzlegion dagegen hatte ihre Garnison in der alten Stadt Tyrsis. Sie war jene präzise Kampfmaschine, die über zahllose Generationen hinweg die Grenzen des Südlandes erfolgreich gegen alle Invasionen verteidigt hatte. Es war die Grenzlegion, die stets die ganze Wucht aller Angriffe auf die Rasse der Menschen hingenommen hatte. Sie bildete die erste Verteidigungslinie gegen feindliche Eindringlinge. Tyrsis hatte die Grenzlegion von Callahorn hervorgebracht, und als Festung suchte sie ihresgleichen.
Die alte Stadt Tyrsis war im Ersten Krieg der Rassen zerstört, dann aber wieder aufgebaut und im Lauf der Jahre erweitert worden, bis sie eine der größten Städte im ganzen Südland und bei weitem die stärkste in den nördlichen Gebieten war. Man hatte sie entworfen als Festung, die jedem Angriff gewachsen war, eine Bastion aus hochragenden Mauern und übereinandergetürmten Bollwerken auf einem natürlichen Hochplateau, vor einer nicht zu besteigenden gigantischen Felswand. Vor über siebenhundert Jahren war die große Außenmauer am Rand der Hochebene errichtet worden, die Grenzen Tyrsis hinausschiebend, so weit die Natur es überhaupt zuließ. Auf den furchtbaren Ebenen unterhalb der Festung lagen die Bauernhöfe und Felder, von denen die Stadt ernährt wurde. Die schwarze Erde wurde versorgt vom lebenspendenden Wasser des mächtigen Mermidon, der nach Osten und Süden strömte. Die Bewohner hatten ihre Häuser ringsum im Land verstreut und suchten den Schutz der ummauerten Stadt nur bei einer Invasion auf. Über Jahrhunderte nach dem Ersten Krieg der Rassen hinweg hatten die Städte um Callahorn alle Angriffe feindseliger Nachbarn erfolgreich abgeschlagen. Nicht eine von ihnen war je einem Feind erlegen, die berühmte Grenzlegion war nie geschlagen worden. Aber Callahorn hatte sich auch noch nie einer Armee von jener Größe gegenübergesehen, die der Dämonen-Lord nunmehr aufstellt die eigentliche Kraft- und Mutprobe stand deshalb erst noch bevor.
Balinor blickte auf die fernen Türme seiner Stadt und war von gemischten Gefühlen bewegt. Sein Vater war ein großer König und ein guter Mann gewesen, aber nun wurde er alt. Seit Jahren hatte er die Grenzlegion in ihrem unaufhörlichen Kampf gegen hartnäckige Gnomen-Überfälle aus dem Osten befehligt. Mehrmals war er gezwungen gewesen, lange und kostspielige Feldzüge gegen die riesigen Nordland-Trolle zu führen, als verschiedene Stämme in sein Land eingedrungen waren, entschlossen, die Städte zu erobern und ihre Bewohner zu unterjochen. Balinor war der älteste Sohn und Erbe des Reiches. Er hatte unter der sorgfältigen Anleitung seines Vaters fleißig studiert und war beim Volk beliebt - bei Menschen, deren Freundschaft nur mit Respekt und Verständnis zu gewinnen war. Er befehligte ein Regiment der Grenzlegion, das sein persönliches Abzeichen trug - einen geduckten Leoparden. Es war die Eliteeinheit der gesamten Streitmacht. Balinor war nichts wichtiger, als die Achtung und Hingabe seiner Männer immer wieder zu gewinnen. Er war nun schon Monate fortgewesen, obwohl sein Vater ihn inständig gebeten hatte, nicht zu gehen, sich seine Entscheidung noch einmal zu überlegen. Er zog nun die Brauen zusammen und blickte düster auf seine Heimat. Unbewußt hob er die Hand ans Gesicht, und der kalte Kettenpanzer berührte die Narbe an der rechten Wange.
»Denkt Ihr wieder an Euren Bruder?« fragte Höndel.
Balinor sah ihn ein wenig erstaunt an und nickte.
»Ihr müßt aufhören, über die ganze Geschichte nachzudenken«, erklärte der Zwerg ruhig. »Er könnte eine ernste Bedrohung für Euch sein, wenn Ihr ihn immer nur als Bruder und nicht als eigene Persönlichkeit betrachtet.«
»Es ist nicht so leicht, zu vergessen, daß sein Blut und das meine mehr aus uns machen als Söhne desselben Vaters«, gab Balinor dumpf zurück. »Ich kann derart starke Bande nicht mißachten oder vergessen.«
Durin und Dayel starrten einander verständnislos an. Sie wußten, daß Balinor einen Bruder hatte, aber er war ihnen noch nie begegnet und auch während der ganzen Reise kein einziges mal erwähnt worden.
Balinor bemerkte ihre verwirrten Mienen und lächelte kurz.
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte er.
Höndel schüttelte den Kopf und verfiel in Schweigen.
»Mein jüngerer Bruder Palance und ich sind die einzigen Söhne Ruhl Buckhannahs, des Königs von Callahorn«, berichtete Balinor nach einer Pause. »Wir hatten ein sehr enges Verhältnis, als wir aufwuchsen - wie ihr beiden. Als wir älter wurden, entwickelten wir verschiedene Ansichten über das Leben.
Wir wurden zu verschiedenen Persönlichkeiten, wie das bei allen der Fall ist, nicht nur bei Brüdern. Ich war der Ältere, der Thronfolger.
Palance war sich darüber natürlich stets im klaren, aber es trennte uns mit der Zeit, vor allem, weil er andere Vorstellungen davon hatte, wie das Land zu regieren sei, als ich... Man kann das schwer erklären.«
»Gar nicht so schwer«, warf Höndel ein.
»Nun gut, nicht so schwer. Palance glaubt, Callahorn sollte Schluß damit machen, als erste Verteidigungslinie für Angriffe auf die Bewohner des Südlandes zu dienen. Er möchte die Grenzlegion auflösen und Callahorn vom Rest des Südlandes isolieren. In diesem Punkt gehen unsere Auffassungen völlig auseinander.« Er verstummte.
»Erzählt weiter, Balinor«, sagte Höndel scharf.
»Mein mißtrauischer Freund glaubt, mein Bruder sei nicht mehr sein eigener Herr - er sage diese Dinge, ohne sie wirklich zu meinen. Er wird beraten von einem Mystiker namens Stenmin, den Allanon für einen Mann ohne Ehre hält. Er werde Palance in sein Verderben führen. Stenmin hat meinem Vater und dem Volk erklärt, herrschen solle mein Bruder, nicht ich. Er hat ihn gegen mich eingenommen. Als ich fortging, schien sogar Palance zu glauben, daß ich nicht geeignet sei, Callahorn zu regieren.«
»Und die Narbe?« fragte Durin leise.
»Ein Streit, bevor ich mit Allanon fortging«, erwiderte Balinor.
»Ich weiß nicht einmal mehr, wie er anfing, aber schlagartig bekam Palance einen Wutanfall - in seinen Augen glühte echter Haß. Ich wollte gehen, und er riß eine Peitsche von der Wand und schlug zu. Das war auch ein Grund, weshalb ich beschloß, Tyrsis für eine Weile zu verlassen - damit Palance Gelegenheit fand, wieder zur Besinnung zu kommen. Wenn ich nach dem Zwischenfall geblieben wäre, hätten wir vielleicht -« Wieder verstummte er, und Höndel warf den Elfen-Brüdern einen Blick zu, der jeden Zweifel darüber ausräumte, was bei einer weiteren Auseinandersetzung zwischen den Brüdern geschehen wäre. »Ihr müßt mir glauben, wenn ich sage, daß mein Bruder nicht immer so gewesen ist, und ich halte ihn auch jetzt nicht für einen schlechten Menschen«, fuhr Balinor halblaut fort. »Stenmin hat Gewalt über Palance, und das treibt diesen in seine Wutanfälle, in denen er sich gegen mich und alles, wovon er weiß, daß es wichtig ist, wendet.«
»Es steckt mehr dahinter«, unterbrach ihn Höndel. »Palance ist ein idealistischer Fanatiker - er begehrt den Thron und stellt sich unter dem Vorwand, die Interessen der Menschen zu vertreten, gegen Euch. Er erstickt an seiner eigenen Selbstgerechtigkeit.«