23
Bis Allanon den widerstrebenden Flick zu seiner Zufriedenheit verkleidet hatte, wurde es Mitternacht. Mit einer fremdartigen Flüssigkeit aus dem Beutel an seinem Gürtel rieb der Druide Gesicht und Hände Flicks ein, bis die Haut eine gelb-dunkle Färbung annahm. Ein Stückchen weicher Kohle veränderte die Linien im Gesicht und die Form der Augen. Es war bestenfalls ein Provisorium, aber im Dunkeln konnte Flick für einen großen, stämmigen Gnomen gelten, wenn er nicht einer scharfen Überprüfung unterzogen wurde. Das Unternehmen wäre selbst für einen erfahrenen Jäger gefährlich gewesen, und es schien an Selbstmord zu grenzen, wenn ein Unerfahrener versuchte, sich als Gnom auszugeben, aber sie hatten keine andere Wahl. Irgendjemand mußte in das riesige Heerlager gelangen und herauszufinden versuchen, was mit Eventine, mit Shea und dem Schwert geschehen war. Das Allanon selbst hinunterging, kam nicht in Frage; er wäre sogar in der besten Maske sofort erkannt worden.
Die Aufgabe oblag also dem angstvollen Flick, als Gnom verkleidet sich im Schutz der Dunkelheit die Hänge hinabzuschleichen, vorbei an den Wachen, in das Lager der vielen tausend Gnomen und Trolle, um dort in Erfahrung zu bringen, ob sein Bruder oder der vermißte Elfen-König Gefangene seien, und Erkundigungen über den Verbleib des Schwertes einzuziehen. Eine zusätzliche Erschwernis war, daß der Talbewohner das feindliche Lager wieder verlassen haben mußte, bevor es hell wurde.
Wenn ihm das nicht gelang, würde man seine Maske gewiß durchschauen und ihn überwältigen.
Allanon veranlaßte Flick, seinen Jagdumhang auszuziehen, und beschäftigte sich einige Minuten damit, ein wenig den Schnitt zu verändern und die Kapuze zu verlängern, damit sie den Träger besser verbarg, Flick legte den Umhang wieder um und stellte fest, daß, wenn er ihn fest zuzog, nichts von ihm zu sehen war als seine Hände und ein verschatteter Teil seines Gesichts.
Wenn er sich von echten Gnomen nach Möglichkeit fernhielt und bis zur Morgendämmerung auf den Beinen blieb, bestand die Möglichkeit, daß er etwas Wichtiges erfuhr und zu entkommen vermochte. Er prüfte, ob sein Jagddolch fest am Gürtel hing, dann stand er langsam auf. Allanon betrachtete ihn noch einmal von oben bis unten und nickte.
Das Wetter war in der letzten Stunde dräuend geworden, der Himmel eine Masse wogender, schwarzer Wolken, die Mond und Sterne völlig verdeckten, auf der Erde herrschte dadurch fast undurchdringliche Dunkelheit. Das einzige Licht stammte von den lodernden Feuern des Lagers. Sie flammten im Nordwind, der heulend durch die Drachenzähne fegte, höher auf. Ein Sturm kündigte sich an und würde sie wohl noch vor dem Morgen erreichen.
Der Druide hoffte, daß Wind und Dunkelheit dem verkleideten Talbewohner helfen würden, der Entdeckung zu entgehen.
In kurzen, knappen Sätzen erläuterte Allanon, wie Flick sich unterhalten müsse, wie das Lager angelegt sei und wo der Wachtposten zu erwarten habe. Er wies ihn an, auf die Standarten der Gnomen-Häuptlinge und der Maturen, der Troll-Führer, zu achten, die sicherlich in der Mitte des Heerlagers zu sehen sein würden. Um jeden Preis müsse er vermeiden, mit irgend jemandem zu sprechen, da seine Ausdrucksweise ihn sofort als Südländer entlarven würde. Flick lauschte aufmerksam und mit klopfendem Herzen. Für ihn stand schon fest, daß er keine Aussicht hatte, unentdeckt zu bleiben, aber die Treue zu seinem Bruder war so groß, daß er dem gesunden Menschenverstand keinen Platz einräumen wollte. Allanon beendete die kurze Instruktion mit dem Versprechen, dafür zu sorgen, daß Flick ungefährdet an der ersten Postenlinie vorbeikommen würde, die unten am Hang aufgestellt war. Er legte den Finger an die Lippen und winkte.
Sie traten aus dem Schutz der Felsblöcke und schlichen hinab zur Ebene. Es war so finster, daß Flick nahezu gar nichts sah und an der Hand geführt werden mußte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber endlich erblickten sie von neuem die Feuer des feindlichen Heerlagers. Flick war von dem Abstieg aus den Bergen wie zerschlagen. Die Dunkelheit schien wie ein Mauer zwischen den Feuern und ihnen zu stehen, und Flick konnte die Wachen weder sehen noch hören. Allanon sagte nichts, sondern duckte sich hinter einen Felsblock und lauschte angestrengt. Die beiden verharrten lange Zeit regungslos, dann stand Allanon plötzlich auf, bedeutete Flick, an seinem Platz zu bleiben, und verschwand lautlos in der Nacht.
Der kleine Talbewohner schaute sich um, allein und angstvoll, weil er nicht wußte, was vorging. Er preßte das heiße Gesicht an den kalten Stein und ging in Gedanken noch einmal durch, was er zu tun haben würde, sobald er das Lager erreichte. Er hattekeinen fertigen Plan. Er würde darauf achten, mit keinem zu sprechen und, wenn möglich, nicht sehr an andere heranzukommen. Er gedachte sich fernzuhalten vom grellsten Licht. Die Gefangenen, wenn sie überhaupt im Lager waren, würden in einem bewachten Zelt nahe dem Mittelpunkt der Feuer untergebracht sein, so daß sein erstes Ziel darin bestand, dieses Zelt zu finden. Angenommen, es gelang ihm, wofür wenig sprach, würde er dann zu den Hängen zurückkehren, wo Allanon auf ihn wartete, und die weiteren Schritte mit ihm besprechen.
Flick schüttelte verwirrt den Kopf. Er wußte, daß er mit dieser Maske nicht unentdeckt bleiben würde - er hatte weder das Talent noch die Schlauheit, andere zu täuschen. Aber was blieb ihm anderes übrig, als es zu versuchen?
Ein plötzliches Geräusch in der Dunkelheit ließ den kleinen Talbewohner entsetzt herumfahren, das Jagdmesser in der Hand. Ein scharfes Flüstern, dann glitt Allanons dunkle Gestalt lautlos heran. Seine Hand packte Flicks Schulter und zog ihn in die Deckung zurück. Allanon blickte prüfend in das Gesicht seines Gegenübers. Flick zwang sich, den durchdringenden Augen standzuhalten; er spürte, wie sein Herz bis zum Hals schlug.
»Die Wachen sind beseitigt - der Weg ist frei«, tönte die tiefe Stimme. »Geh jetzt, mein junger Freund, und verlasse dich auf deinen Mut und deinen Verstand.«
Flick nickte und stand auf, dann schlich er hinein in die Schwärze der Ebene. Sein Verstand hörte auf zu arbeiten, hörte auf, sich zu wundern, als sein Körper das Kommando übernahm und seine Instinkte die Dunkelheit nach verborgenen Gefahren absuchten. Er lief halb geduckt auf die fernen Feuer zu, blieb ab und zu stehen und lauschte. Die Nacht war ein undurchdringliches Leichentuch, der Himmel noch immer dicht verhangen. Das Flachland war glatt und offen, die Oberfläche ein Grasteppich, der jeden Laut schluckte. Es gab einige Büsche und vereinzelt Bäume in der weiten Leere. In der Dunkelheit war kein Lebenszeichen zu erkennen, die einzigen Geräusche waren das Heulen des zunehmenden Windes und seine eigenen Atemzüge. Die Lagerfeuer, von weitem ein orangerotes, nebelhaftes Leuchten, lösten sich in einzelne Lichter auf, als der Talbewohner näherkam.
Manche loderten hell auf, wenn neues Holz nachgeschoben wurde, andere waren schon herabgebrannt und zur Glut erloschen, während die Soldaten schliefen. Flick hörte jetzt schwache Stimmen, aber verstehen konnte er noch nichts.
Es verging fast eine halbe Stunde, bis Flick die ersten Feuer erreichte.
Er blieb außerhalb des Lichtscheins geduckt stehen und schaute sich um. Der kalte Nachtwind schürte die Flammen und die dünne Rauchwolken herüberwehen. Ein zweiter Ring von Wachen umgab das Lager, aber die Abstände zwischen den eineinzelnen Posten waren groß. In solcher Nähe des Lagers befürchteten die Nordländer nichts. Die Wachen waren meist Gnomenführer, wenngleich Flick hier und dort auch die großen Trolle erkennen konnte.
Er starrte geraume Zeit auf die fremdartigen Züge der Bergwesen.
Sie waren von verschiedener Größe, diese Trolle, alle mit dicken Gliedmaßen und einer dunklen, holzartigen Haut.
Die Wachen und vereinzelte andere, die nicht umherliefen, sondern herumstanden oder am Feuer kauerten, hatten sich in dicke Umhänge gehüllt, die ihre Leiber und Gesichter zum größten Teil verbargen. Flick nickte zufrieden vor sich hin.