Der Prinz von Leah sicherte nach allen Seiten, dann richtete er sich auf und streckte sich. Er wußte, daß er den Mermidon weiter unten durchqueren mußte, wenn er nicht eine längere Strecke im eisigen Wasser schwimmen wollte. Sobald er eine Stelle unmittelbar der Insel gegenüber erreichte, war er sicher, ein Boot oder eine Fähre zur Stadt zu finden. Er schob die Waffen auf seinem Rücken höher, lächelte grimmig vor sich hin und begann über den Fluß nach Süden zu gehen.
Er war noch nicht sehr weit gekommen, vielleicht tausend Meter, als der Wind für einen Augenblick erstarb; in der plötzlichen Stille hörte er vor sich ein Murmeln. Augenblicklich warf er sich auf den Boden. Der Wind fegte wieder an seinen Ohren vorbei, als er in die Dunkelheit hineinlauschte. Das Fauchen erstarb ein zweitesmal, und wieder hörte er das leise Murmeln, aber diesmal war ihm klar, was es bedeutete. Stimmen, die aus der Schwärze am Flußufer zu ihm heraufgetragen wurden. Er kroch hastig zurück über die Böschung, wo er vor den funkelnden Lichtern der fernen Stadt wieder verborgen war. Dann stand er auf und lief geduckt parallel zum Strom weiter. Die Stimmen wurden lauter und deutlicher und schienen endlich unmittelbar über die Böschung heraufzukommen. Er lauschte angestrengt, schien aber nicht verstehen zu können, was gesprochen wurde.
Er robbte vorsichtig bis zur Böschungskante, von wo aus er eine Gruppe dunkler Gestalten am Mermidon erkennen konnte.
Als erstes sah er das an einem Strauch festgebundene Boot.
Sein Transportmittel, wenn er es erreichen konnte - aber er verwarf den Gedanken fast augenblicklich. In einem Kreis neben dem verankerten Boot standen vier große, bewaffnete Trolle, unverwechselbar sogar in dieser Düsternis. Sie sprachen mit einer fünften Gestalt, die kleiner und schmächtiger war, der Kleidung nach zweifellos ein Bewohner des Südlandes.
Menion betrachtete sie kurze Zeit aufmerksam und versuchte ihre Gesicher zu erkennen, aber in der trüben Beleuchtung war das nahezu unmöglich. Er konnte nur sehen, daß der Fremde einen kleinen, schwarzen Bart trug, den er beim Reden auf merkwürdige Weise mit kurzen, ruckhaften Bewegungen strich.
Dann sah der Prinz von Leah plötzlich noch etwas. Neben den Männern lag ein großes, wohlverschnürtes Bündel. Menion starrte es zweifelnd an, im Dunkel ungewiß, was es sein mochte.
Zu seiner Verblüffung bewegte sich das Bündel ein wenig - genug, um den Hochländer davon zu überzeugen, daß unter der dicken Hülle etwas Lebendiges steckte. Fieberhaft versuchte er sich eine Möglichkeit auszudenken, wie er an die kleine Gruppe herankommen konnte, aber es war bereits zu spät. Die vier Trolle und der Fremde trennten sich. Einer der Trolle ging zu dem rätselhaften Bündel und warf es mühelos über seine breite Schulter.
Der Fremde kehrte zum Boot zurück, löste die Halteleine und stieg hinein, um die Ruder ins Wasser zu tauchen. Man wechselte Abschiedsworte, und Menion fing Satzfetzen auf, darunter die Bemerkung, man habe alles fest in der Hand. Als das Boot auf den Fluß hinausfuhr, rief der Fremde noch, man möge weitere Nachrichten von ihm über den Prinzen abwarten.
Menion drückte sich tiefer in das feuchte Gras und sah den Mann mit seinem Boot in der nebligen Dunkelheit über dem Mermidon verschwinden. Der neue Tag kam endlich herauf, aber in Form von trübem, dunstig-grauem Licht, bei dem man nicht viel mehr sah als vorher im Dunkeln. Der Himmel war noch immer verhangen von großen, schwarzen Wolken, die jeden Augenblick die Erde zu streifen drohten. Bald würde es heftig regnen, und die Luft war bereits erfüllt von einem feuchten, itis Mark dringenden Nebel, der die Kleidung Menions durchleuchtete und sich eiskalt auf seine Haut legte. Die riesige Nordland-Armee würde in kurzer Zeit auf dem Marsch zur Inselstadt Kern sein und sie vermutlich gegen Mittag erreichen. Es blieb ihm wenig Zeit, die Bürger vor dem bevorstehenden Angriff zu warnen - einem Sturm von Soldaten und Waffen, gegen den die Stadt sich nicht lange würde halten können. Die Bevölkerung mußte auf der Stelle evakuiert und zu ihrem Schutz nach Tyrsis oder noch weiter südlich gebracht werden. Balinor mußte erfahren, daß die Zeit abgelaufen war, daß die Grenzlegion antreten und den Feind aufhalten mußte, bis sie von den Zwerg- und Elfen-Armeen verstärkt wurde.
Der Prinz von Leah wußte, daß keine Zeit mehr blieb, weiter über das geheimnisvolle Treffen am Flußufer nachzudenken, aber er zögerte noch einen Augenblick, als die vier Trolle mit dem sich aufbäumenden Bündel das Ufer verließen und zur Anhöhe auf seiner Rechten hinaufstiegen. Für Menion stand fest, daß der Fremde im Boot einen Gefangenen gemacht und ihn den Soldaten der Nordland-Armee übergeben hatte. Die nächtliche Begegnung war von beiden Seiten vorher vereinbart worden, die Übergabe hatte aus Gründen stattgefunden, die Menion nicht zu erahnen vermochte. Wenn sie sich diese Mühe gemacht hatten, mußte der Gefangene für sie - und damit für den Dämonen-Lord - sehr wichtig sein.
Menion sah die Trolle in den dichten Morgennebel hineingehen und war immer noch unentschlossen, ob er eingreifen sollte.
Allanon hatte ihm eine Aufgabe übertragen - eine lebenswichtige, die Tausende von Menschenleben retten mochte. Es blieb keine Zeit für Husarenritte im feindlichen Gebiet zur Befriedigung persönlicher Neugier, selbst wenn das hieß... Shea! Angenommen, es war Shea, den man eingefangen hatte? Der Gedanke durchzuckte Menion wie ein Blitz, und die Entscheidung war gefallen. Shea war zu allem der Schlüssel - Menion mußte versuchen, ihn zu befreien, wenn er wirklich der Gefangene war.
Er sprang auf und lief schnell nach Norden, dorthin zurück, von wo er gekommen war, bemüht, auf einem Weg parallel zu dem der Trolle zu bleiben. Im dichten Nebel fiel es schwer, die Richtung zu halten, aber Menion dachte nicht lange über dieses Problem nach. Es würde außerordentlich schwer werden, vier bewaffneten Trollen ihren Gefangenen zu entreißen, da schon ein einziger von ihnen dem Hochländer körperlich weit überlegen war. Dazu kam die Gefahr, daß sie wieder durch die Postenkette der Nordland-Armee gelangen würden. Wenn er nicht vorher zupackte, hatte er keine Chance. Eine Rettung hing vor allem davon ab, ob der Fluchtweg zum Mermidon frei war. Menion spürte die ersten klatschenden Regentropfen, als er weiterhastete, und der Donner grollte drohend, während der Wind an Stärke zunahm. Verzweifelt suchte Menion in dem Gemisch von Wolken und Nebel nach einer Spur seiner Gegner, konnte aber nichts erkennen. Überzeugt, daß er zu langsam gewesen war und sie verfehlt hatte, hetzte er über das Grasland, wie ein wilder, schwarzer Schatten durch den Nebel huschend. Er schlug Haken um kleine Bäume und Büsche. Der Regen peitschte sein Gesicht, das Wasser lief ihm in die Augen, so daß er kurz stehen bleiben und sich das Gesicht abwischen mußte. Er schüttelte erbost den Kopf. Sie mußten irgendwo in der Nähe sein.
Schlagartig tauchten die vier Trolle links hinter ihm aus dem Nebel auf. Menion hatte sich verschätzt und sie überholt. Er sank hinter ein niedriges Gebüsch und starrte hinaus. Wenn sie auf diesem Weg blieben, würden sie an einem größeren Strauchwerk weiter vorne vorbeikommen. Der Prinz von Leah sprang auf und raste davon in den Nebel, bis er die Trolle nicht mehr sehen konnte. Wenn sie ihn wahrgenommen hatten, war es aus mit ihm.
Sie würden auf ihn gefaßt sein. Wenn nicht, wollte er seinen Hinterhalt in das Gebüsch verlegen und dann zum Fluß zurücklaufen.
Er rannte über die Ebene zu den Sträuchern, wo er sich keuchend auf alle vier niederließ und vorsichtig durch die Zweige schaute.
Einen Augenblick lang gab es nichts zu sehen als Nebel und Regen, dann tauchten vier massige Gestalten auf und näherten lieh seinem Versteck. Er warf den schweren, durchnäßten Jagdumhang ab. Er mußte schnell sein können, um den Trollen zu cntwischen, sobald es ihm gelungen war, den Gefangenen zu befreien. Auch die großen Stiefel zog er aus. Das Schwert von Leah legte er neben sich auf den Boden, nachdem er es aus der Lederscheide gezogen hatte. Er griff nach dem großen Eschenholzbogen und nahm zwei lange, schwarze Pfeile aus dem Köcher. Die Trolle näherten sich rasch. Sie gingen zu zweit nebeneinander, und einer der vorderen Soldaten trug die schlaffe Gestalt des Gefangenen.