Was am Ende geschah, wurde ihm nie völlig klar. Er nahm dumpf wahr, daß Hände ihn vom Boot auf ein grasbewachsenes Ufer hoben, wo er zusammenbrach. Er hörte die sanfte Stimme dess Mädchens, dann wurde es schwarz um ihn. Er schwamm in Dunkelheit und wieder hinaus, geplagt von einem Gefühl der Gefahr, das ihn bedrängte und hochtreiben wollte, aber sein Körper konnte nicht reagieren, und schießlich verfiel er in einen tiefen Schlaf.
Als er wach wurde, war es draußen noch hell, und der Regen fiel gleichmäßig von einem grauen Himmel. Er lag in der Wärme und Behaglichkeit eines Bettes, trocken und ausgeruht, die zerschundenen Füße gesäubert und verbunden. Der Regen trommelte friedlich an die Fenster. Menion schaute sich in der schön eingerichteten Kammer um und begriff schnell, daß das nicht das Heim eines Durchschnittsbürgers war, sondern eine königliche Behausung. Die Täfelung trug Abzeichen und Wappen, die den Königen von Callahorn gehörten, wie Menion wußte. Er lag ruhig da und ließ den Blick durch das Zimmer gleiten, während er spürte, wie seine Kraft zurückkehrte. Er sah auf einem Stuhl trockene Kleidung liegen und wollte gerade aufstehen, um sich anzuziehen, als die Tür aufging und eine alte Dienerin mit einem Tablett voll dampfender Speise hereinkam. Sie nickte höflich und lächelte, eilte mit dem Tablett ans Bett, um es dem Hochländer vorzusetzen, stützte seinen Rücken mit Kissen und drängte ihn, zu essen, solange noch alles heiß sei. Sie erinnerte Menion beinahe an seine eigene Mutter, eine gütige, treusorgende Frau, die in seinem zwölften Lebensjahr gestorben war. Die Dienerin wartete, bis er den ersten Bissen zu sich genommen hatte, dann verließ sie das Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich.
Menion aß langsam, genoß die wohlschmeckenden Speisen und fühlte sich wieder kräftiger werden. Erst als er halb fertig war, fiel ihm ein, daß er seit über vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte - oder vielleicht noch länger. Er starrte wieder durch das Fenster auf den Regen und konnte nicht einmal sagen, ob es noch derselbe Tag war. Es mochte schon der nächste sein...
Blitzartig fiel ihm ein, weshalb er nach Kern gekommen war - um die Stadt vor der Invasion durch die Nordland-Armee zu warnen. Es mochte schon zu spät sein. Er war bei dem Gedanken erstarrt, die Gabel vor dem Mund, als die Tür ein zweitesmal aufging. Es war die junge Frau, die er gerettet hatte, erholt und frisch, in einem fließenden, langen Gewand von satten Farben, die langen, roten Flechten gekämmt und schimmernd sogar im grauen Licht des regnerischen Tages. Sie war bei weitem die schönste Frau, der Menion je begegnet war. Er bemerkte die erhobene Gabel, ließ sie sinken und lächelte. Sie schloß die Tür hinter sich und trat an sein Bett. Unfaßbar schön, dachte er wieder.
Weshalb war sie enführt worden? Was mochte Balinor über sie wissen - welche Antworten konnte er geben? Sie betrachtete ihn mit ihren klaren, ruhigen Augen.
»Ihr seht sehr gesund aus, Prinz von Leah«, sagte sie lächelnd.
»Der Schlaf und das Essen haben Euch gut getan.«
»Woher wißt Ihr...?«
»Euer Schwert trägt die Abzeichen des Königs von Leah, so viel weiß ich. Wer anderer als sein Sohn würde eine solche Waffe tragen? Aber Euren Namen weiß ich nicht.«
»Menion«, erwiderte der Prinz, ein wenig verwundert über die Kenntnisse des Mädchens.
Die junge Frau streckte eine schmale, gebräunte Hand aus, um die seine zu drücken.
»Ich bin Shirl Ravenlock, und das ist meine Heimat, Menion - die Inselstadt Kern. Ohne Eure Tapferkeit hätte ich sie nie wiedergesehen.
Dafür werde ich Euch ewig dankbar und in Freundschaft verbunden sein. Und nun eßt weiter, während wir uns unterhalten.
« Sie setzte sich zu ihm ans Bett. Wieder hob er die Gabel, aber das löste die Erinnerung in ihm aus, und er ließ sie auf den Teller fallen.
»Ihr müßt Tyrsis Nachricht geben, Balinor verständigen – die Invasion aus dem Norden hat begonnen! Eine Armee lagert nicht weit von Kern, um...«
»Ich weiß, keine Sorge«, erwiderte Shirl schnell und hob die Hand. »Selbst im Schlaf habt Ihr von der Gefahr gesprochen - Ihr habe uns noch gewarnt, bevor Ihr ohnmächtig geworden seid. Tyrsis erhält Nachricht. Palance Buckhannah herrscht in Abwesenheit seines Bruders; der König ist noch immer sehr krank. Kern organisiert seine Verteidigung, aber im Augenblick besteht noch keine dringende Gefahr. Durch die Regenfälle ist der Mermidon so angeschwollen, daß eine größere Streitmacht nicht übersetzen kann. Wir sind sicher, bis Verstärkung kommt.«
»Balinor hätte schon vor Tagen in Tyrsis sein müssen«, sagte Menion erschrocken. »Was ist mit der Grenzlegion? Ist sie kampfbereit?«
Das Mädchen sah ihn verständnislos an. Von diesen Dingen Wußte sie offenbar nichts. Menion stellte das Tablett plötzlich Weg und stieg aus dem Bett, während Shirl sich erstaunt erhob.
»Shirl, Ihr mögt glauben, daß Ihr auf dieser Insel sicher seid, aber ich kann Euch sagen, daß die Zeit für uns alle abläuft!« sagte Menion scharf, als er nach der Kleidung griff. »Ich habe gesehen, wie groß diese Armee ist, und selbst das Hochwasser wird sie nicht lange aufhalten. Im übrigen müßte ein Wunder geschehen, wenn Hilfe kommen sollte.« Er erstarrte plötzlich, die Hand am Zweiten Knopf seines Nachthemdes, als ihm klar wurde, daß er Vor einem Mädchen stand. Er deutete stumm zur Tür, aber sie Schüttelte nur den Kopf und drehte sich um, damit er sich ankleiden konnte.
»Und Eure Entführung?« fragte Menion, hastig in die frischen Sachen schlüpfend. »Habt Ihr eine Ahnung, weshalb Ihr für die Nordländer so wichtig seid - abgesehen von der Tatsache, daß ihr eine sehr schöne Frau seid?« Er lächelte, als er sich vorstellte, daß das Mädchen sicherlich errötete, auch wenn er das nicht sehen konnte.
»Ich weiß nicht genau, was geschehen ist«, sagte sie nach einer Pause. »Ich schlief. Ein Geräusch im Zimmer weckte mich, dann wurde ich gepackt und verlor das Bewußtsein - ich glaube, ich wurde niedergeschlagen oder... Nein, jetzt erinnere ich mich. Es war ein Tuch mit einer übelriechenden Flüssigkeit, das man mir auf das Gesicht preßte. Ich wurde ohnmächtig, und als ich wieder zu mir kam, lag ich am Fluß. Wie eingeschnürt ich war, wißt Ihr.
Ich konnte nichts sehen und nur wenig hören - und dies Wenige nicht verstehen. Habt Ihr etwas gesehen?«
Menion schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln.
»Nein, nicht viel«, sagte er, als ihm einfiel, daß ihn Shirl nicht sehen konnte. »Ein Mann hat Euch im Boot hinübergebracht und vier Trollen übergeben. Ich konnte den Mann nicht genau sehen, würde ihn aber vielleicht wiedererkennen, wenn er mir begegnen sollte. Ich muß Euch noch einmal fragen: Weshalb sollte Euch jemand entführen? Dreht Euch um. Ich bin angekleidet.«
Die junge Frau drehte sich gehorsam um und kam heran, als er die hohen Jagdstiefel anzog.
»Ich bin von königlichem Geblüt, Menion«, sagte sie leise.
Menion hob den Kopf. Er hatte schon vermutet, daß sie keine gewöhnliche Bürgerin Kerns war, nachdem sie das Wappen von Leah an seinem Schwert erkannt hatte. »Meine Vorfahren waren Könige von Kern - und für einige Zeit auch von Callahorn, bevor die Buckhannahs vor etwa hundert Jahren an die Macht kamen.
Ich bin eine... nun, man könnte vielleicht sagen, eine Prinzessin - in absentia.« Sie lachte plötzlich, und Menion lächelte sie an.
»Mein Vater ist Mitglied des Rates, der die inneren Angelegenheiten von Kern regelt. Der König ist der Herrscher von Callahorn, aber dabei handelt es sich, wie man sagt, um eine aufgeklärte Monarchie, und der König mischt sich selten in die Angelegenheiten der Stadt ein. Sein Sohn Palance fühlte sich schon geraume Zeit zu mir hingezogen, und es ist kein Geheimnis, daß er vorhat, mich zu heiraten. Ich... ich kann mir vorstellen, daß ein Feind mich dazu benützen könnte, gegen ihn vorzugehen.«