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Die Stunden verrannen lautlos in der Gruftschwärze der kleinen Zelle. Selbst nachdem die Augen der Gefangenen sich an die undurchdringliche Dunkelheit gewöhnt hatten, blieb eine Isolierung, die auf die Sinne drückte und ihre Fähigkeit zerstörte, den Ablauf der Zeit zu bestimmen. Jenseits der leeren Dunkelheit des Raumes und ihrer eigenen Atemzüge konnten die drei Gefangenen nichts hören als das gelegentliche Scharren eines kleinen Nagetieres und das stetige Tropfen eisig kalten Wassers auf Stein.
Schließlich begannen ihre eigenen Ohren ihnen etwas vorzulügen, und sie hörten Geräusche, wo nur Stille war. Ihre Bewegungen selbst waren bedeutungslos, weil sie im leeren Raum stattzufinden schienen. Eine endlose Zeitspanne dehnte sich und verging, und noch immer erschien niemand.
Irgendwo im Licht und in der Luft über ihnen, inmitten der Menschen, entschied Palance Buckhannah über ihr Schicksal und damit indirekt über das Geschick des Südlandes. Die Zeit lief ab für Callahorn; mit jeder Stunde rückte der Dämonen-Lord näher.
Aber hier, in der lautlosen Schwärze des kleinen Verlieses, in einer vom Pulsschlag der menschlichen Welt abgeschnittenen Umgebung, bedeutete die Zeit nichts, und der morgige Tag würde so sein wie der heutige. Irgendwann würde man sie entdecken, aber würden sie ins freundliche Licht der Sonne steigen oder von einer Dunkelheit in die andere treten? Würden sie nur der entsetzlichen Düsternis des Schädelkönigs begegnen, dessen Macht nicht nur nach Callahorn, sondern in die fernsten Winkel aller Provinzen des Südlandes reichte?
Balinor und die Elfen-Brüder hatten sich bald nach dem Verschwinden ihrer Wärter befreit. Die Stricke, mit denen sie gefesselt gewesen waren, hatte man nur locker gebunden, weil es keine Flucht aus den Verliesen gab, und sie hatten sich beeilt, die Knoten zu lösen. In der Dunkelheit kauernd, Stricke und Augenbinden beiseite werfend, besprachen sie, was mit ihnen geschehen werde. Der feuchte, faulige Gestank des uralten Kellers verursachte Übelkeit, und die Luft war kalt und zermürbend, trotz ihrer dicken Kleidung. Der Boden war aus Erde, die Mauern aus Stein und Eisen, der Raum nackt und leer.
Balinor kannte den Keller unter dem Palast, nicht aber den Raum, in den sie eingekerkert worden waren. Die Kellerräume wurden in erster Linie für Lagerzwecke benützt, und es gab eine Reihe von Kammern, in denen man Weinfässer gestapelt hatte, aber dieser Raum gehörte nicht dazu. Er begriff betroffen, daß man sie in das alte Verlies, das Jahrhunderte zuvor unter dem Keller gebaut worden war, eingeschlossen hatte. Wahrscheinlich waren auch Balinors Freunde hier irgendwo eingesperrt, als sie in den Palast gegangen waren, um sich gegen die Auflösung der Grenzlegion auszusprechen. Das Gefängnis war gut verborgen, und Balinor bezweifelte, daß man sie finden würde.
Die Diskussion wurde schnell abgeschlossen. Es gab wenig zu sagen. Balinor hatte Hauptmann Sheelon seine Anweisungen gegeben.
Wenn sie nicht zurückkehrten, sollte er Ginnisson und Fandwick aufsuchen, zwei von Balinors zuverlässigsten Befehlshabern, und sie veranlassen, die Grenzlegion wieder aufzustellen, um mit ihr den Angriff des Dämonen-Lords und seiner Invasionsarmee abzuschlagen. Außerdem sollte Sheelon Botschaften an die Elfen- und Zwergen-Nationen senden, sie warnen und um ihre schnelle Unterstützung bitten. Eventine würde nicht zulassen, daß seine Vettern lange Zeit Gefangene in Callahorn blieben, und auch Allanon würde schnell erscheinen, sobald er von ihrem Mißgeschick erfuhr. Aber die Zeit war kostbar, und da Palance entschlossen war, den Thron von Callahorn zu besteigen, schwebten sie in höchster Lebensgefahr. Balinor bedauerte im stillen, Durins Rat nicht gefolgt zu sein, eine Konfrontation mit seinem Bruder zu meiden, bis er sich des Ausgangs sicher gewesen wäre.
Er hatte nie geglaubt, daß es so schlimm kommen könnte.
Palance war wie ein Besessener gewesen, sein Haß so verzehrend, daß er sich nicht einmal angehört hatte, was Balinor ihm sagen wollte. Aber sein irrationales Verhalten gab wenig Rätsel auf. Es war mehr als eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Brüdern, die zu dieser Wahnsinnstat geführt hatte. Es war mehr als die Krankheit seines Vaters, an der Palance seinem Bruder die Schuld zu geben schien. Es hing zusammen mit Shirl Ravenlock, der verlockenden Schönheit, in die Palance sich vor Monaten verliebt und die zu heiraten er geschworen hatte, obwohl sie eher zu zögern schien. Dem jungen Mädchen aus Kern war etwas zugestoßen, und Balinor war die Schuld zugeschrieben worden.
Palance würde alles tun, um sie zurückzugewinnen, wenn sie wirklich vermißt wurde.
Balinor erläuterte den Elfen-Brüdern die Lage. Er war überzeugt davon, daß Palance bald erscheinen und Auskunft über die junge Frau heischen würde. Aber er werde ihnen nicht glauben, wenn sie antworteten, sie wüßten nichts...
Mehr als vierundzwanzig Stunden vergingen, und noch immer tauchte niemand auf. Es gab nichts zu essen. Auch als ihre Augen sich mit der Zeit an das Dunkel gewöhnt hatten, gab es nichts zu sehen als ihre eigenen schauenhaften Gestalten und die Mauern.
Sie wechselten sich beim Schlafen ab, um ihre Kräfte für das Bevorstehende zu schonen, aber die unheimliche Stille verhinderte tiefen, festen Schlaf, und sie fanden sich mit unruhigem, leichtem Schlummer ab, der sie körperlich und seelisch wenig erfrischte.
Anfangs hatten sie versucht, an den Angeln der massiven Tür eine schwache Stelle zu finden, aber ohne Erfolg. Ohne Werkzeug vermochten sie auch den steinharten Boden nicht aufzugraben.
Die Steinmauern waren alt, aber noch immer fest und massiv, ohne bröckelnde Steine. Sie gaben ihre Fluchtversuche schließlich auf und lehnten sich stumm an die Wände.
Schließlich, nach schier endlosen Stunden des Wartens in der kalten Stille, hörten sie in der Ferne klirrendes Metall, als irgendwo über ihnen eine alte Tür geöffnet wurde. Stimmen ertönten dumpf und leise, dann näherten sich Schritte. Sie standen schnell auf und drängten sich an die Zellentür, als Schritte und Stimmen näherrückten. Balinor erkannte die Stimme seines Bruders über den anderen, seltsam zögernd und brüchig. Dann wurden die schweren Riegel zurückgezogen, deren Kreischen den Gefangenen in den Ohren gellte, und sie traten von der dicken Tür zurück, als sie geöffnet wurde. Grelles Licht von Fackeln fiel in den dunklen Raum, und die Gefangenen bedeckten die geschwächten Augen. Während sie sich langsam an die Helligkeit gewöhnten, traten mehrere Gestalten ein und blieben stehen.
Der jüngere Sohn des kranken Königs von Callahorn stand vor drei anderen Gestalten, das breite Gesicht ruhig, die Unterlippe vorgeschoben. Allein seine Augen verrieten den Haß, der in ihm loderte, und sie glitten unruhig, beinahe verzweifelt von einem Gefangenen zum anderen, während er hinter dem Rücken die Fäuste ballte und wieder öffnete. Hinter ihm stand ein Mann, den sogar die Elfen-Brüder erkannten, obwohl sie ihn vorher noch nie gesehen hatten. Es war Stenmin, ein hagerer, leicht gebückter Mann mit scharfen Zügen, gekleidet in rötliche Gewänder. Seine Augen wirkten seltsam verschattet und spiegelten etwas unsagbar Böses wider. Seine Hände glitten nervös über seinen Körper und strichen immer wieder, beinahe mechanisch, über den kleinen, schwarzen Spitzbart. Hinter den beiden standen zwei bewaffnete Wachen, schwarz gekleidet, mit dem Abzeichen des Falken. Vor der Tür hatten zwei weitere Wachen Aufstellung genommen, alle mit spitzen, eisernen Piken. Einen Augenblick lang blieb es still; niemand bewegte sich auch nur, während die Männer einander anstarrten. Dann zeigte Palance mit einer ruckartigen Bewegung zur Tür.
»Ich spreche allein mit meinem Bruder. Führt die beiden anderen hinaus!«
Die Wachen gehorchten und trieben die widerstrebenden Brüder nach draußen. Der hochgewachsene Prinz wartete, bis sie gegangen waren, dann blickte er fragend auf die rotgekleidete Gestalt neben sich.