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»Ich dachte, Ihr braucht mich vielleicht...?« Das hagere, berechnende Gesicht blieb Balinor zugewandt.

»Verlaßt uns, Stenmin! Ich spreche allein mit meinem Bruder.« Seine Stimme klang zornig. Der andere nickte sofort und ging hastig hinaus. Die schwere Tür schloß sich krachend, und die Brüder standen einander in der Stille gegenüber, in der nur das Zischen der Fackel zu hören war. Balinor bewegte sich nicht, sondern wartete ruhig, den Blick auf das Gesicht seines Bruders gerichtet, in dem er Spuren der alten Liebe und Freundschaft zu finden versuchte. Aber sie fehlten oder waren zumindest in einem fernen Winkel des Herzens verborgen, und an ihre Stelle war ein seltsamer, ruheloser Zorn getreten, der eben so sehr einer Unzufriedenheit mit der Situation wie der Abneigung gegen den gefangenen Bruder zu entspringen schien. Dann verschwand der Zorn plötzlich und wurde verdrängt von einer ruhigen Distanz, die Balinor unecht und irrational fand, so, als spiele Palance eine Rolle, ohne sich des wahren Charakters bewußt zu sein.

»Weshalb bist du zurückgekommen, Balinor?« sagte er langsam und traurig. »Weshalb hast du es getan?«

Balinor antwortete nicht. Es gelang ihm nicht, den plötzlichen Stimmungsumschwung zu verstehen. Vorher schien sein Bruder entschlossen gewesen zu sein, ihn in Stücke reißen zu lassen, um den Aufenthalt der schönen Shirl Ravenlock zu erfahren, und nun ging ej darauf gar nicht ein.

»Macht nichts, macht nichts...«, sagte Palance, bevor Balinor sich von seiner Verwunderung erholen konnte. »Du hättest fortbleiben sollen, nach... nach all... deinen Verrätereien. Ich hoffte es, weißt du, weil wir uns als Kinder so gut verstanden haben und du schließlich mein einziger Bruder bist. Ich werde König von Callahorn sein... ich hätte eigentlich der Thronfolger sein müssen...

« Er verstummte und schien ins Leere zu starren. Er ist wahnsinnig geworden, dachte Balinor verzweifelt. Man kommt nicht mehr an ihn heran.

»Palance, hör mir zu - hör mir einmal genau zu. Ich habe dir oder deiner Shirl nichts getan. Ich bin in Paranor gewesen und bin nur zurückgekommen, um unser Volk zu warnen. Der Schädelkönig hat eine so riesige Armee aufgestellt, daß sie unbehindert durch das ganze Südland vorstoßen wird, wenn wir sie nicht hier aufhalten. Um all dieser Menschen willen, bitte, hör mich an...«

»Ich will von diesem albernen Geschwätz über eine Invasion nichts mehr hören!« sagte sein Bruder schrill. »Meine Späher haben die Grenzen des Landes überprüft und nirgends etwas von einer feindlichen Armee gesehen. Außerdem würde niemand es wagen, Callahorn anzugreifen - mich anzugreifen... Unser Volk ist hier in Sicherheit. Was geht mich der Rest des Südlandes" an? Was schulde ich ihm ? Man hat uns immer alleine kämpfen lassen, alleine das Grenzland verteidigen lassen. Ich schulde den Leuten nichts!« Er trat einen Schritt auf Balinor zu, und- der Haß flammte in seinen Augen wieder auf, als sein junges Gesicht sich verzerrte. »Du hast dich gegen mich gestellt, Bruder, als du wußtest, daß ich König werden sollte. Du hast versucht, mich zu vergiften, wie du meinen Vater vergiftet hast - du wolltest, daß ich so krank und hilflos sei wie er... daß ich alleine und vergessen sterbe wie er. Du hast geglaubt, einen Verbündeten gefunden zu haben, der dir den Thron verschafft, als du mit diesem Verräter Allanon fortgegangen bist. Wie ich diesen Mann hasse - nein, nicht Mann, ein böses Wesen! Er muß vernichtet werden! Aber du wirst in dieser Zelle bleiben, allein und vergessen, Balinor, bis du stirbst - das Schicksal, das du mir zugedacht hast, wirst du erleiden!«

Er wandte sich plötzlich ab und lachte kurz auf, als er zur geschlossenen Tür ging. Balinor glaubte, er werde sie öffnen, aber Palance blieb stehen und drehte sich um. Seine Augen wirkten wieder traurig.

»Du hättest dich von diesem Land fernhalten und ungefährdet leben können«, murmelte er beinahe verwirrt. »Stenmin sagte aber, du würdest zurückkommen, selbst als ich ihn vom Gegenteil überzeugen wollte. Er hatte wieder einmal recht. Er hat immer recht. Warum bist du gekommen?«

Balinor überlegte schnell. Er mußte seinen Bruder dazu bewegen, preiszugeben, was mit seinem Vater und seinen Freunden geschehen war.

»Ich... ich habe entdeckt, daß ich mich geirrt hatte - daß ich unrecht gehabt habe«, sagte er stockend. »Ich bin heimgekehrt, um mit unserem Vater und mit dir zu sprechen, Palance.«

»Vater«, sagte der Prinz tonlos und trat einen Schritt näher.

»Ihm ist nicht mehr zu helfen, er liegt wie ein Toter im Südflügel.

Stenmin kümmert sich um ihn, wie ich auch, aber man kann nichts tun. Er scheint nicht mehr leben zu wollen.«

»Aber was fehlt ihm?« rief Balinor ungeduldig und ging drohend auf Palance zu.

»Bleib mir vom Leib, Balinor!« Palance wich hastig zurück, zog einen Dolch und duckte sich. Balinor zögerte. Es wäre leicht gewesen, Palance den Dolch zu entreißen und den Prinzen zu überwältigen, als Geisel für seine Freilassung. Aber irgendetwas hielt ihn zurück, eine innere Stimme, die ihn vor einem solchen Schritt warnte. Er blieb stehen, hob die Arme und wich an die Rückwand zurück.

»Du darfst nicht vergessen, daß du mein Gefangener bist«, sagte Palance und nickte zufrieden. »Du hast den König vergiftet und versucht, mich zu vergiften. Ich könnte dich töten lassen.

Stenmin hat mir geraten, dich sofort hinrichten zu lassen, aber ich bin nicht so feige wie er. Ich habe die Grenzlegion auch kommandiert, bevor... Aber sie ist jetzt aufgelöst, die Leute sind zu ihren Familien zurückgekehrt. Meine Regierungszeit soll eine des Friedens sein. Das verstehst du nicht, Balinor, nicht wahr?«

Sein Bruder schüttelte den Kopf, verzweifelt bemüht, die Aufmerksamkeit des anderen noch einige Minuten festzuhalten. Offenbar hatte Palance den Verstand verloren. Ob das an einem Geburtsfehler lag oder an der Belastung durch die Geschehnisse, seitdem er, Balinor, Tyrsis verlassen hatte, war nicht ersichtlich. Jedenfalls war Palance nicht mehr der Bruder, mit dem Balinor aufgewachsen war und den er geliebt hatte wie keinen anderen.

Es war ein Fremder, der in der körperlichen Hülle seines Bruders lebte - ein Fremder, besessen von dem Drang, König von Callahorn zu sein. Dahinter steckte Stenmin, das stand für Balinor fest. Der Mystiker hatte den Geist seines Bruders beeinflußt, ihn seinen eigenen Zwecken gefügig gemacht, ihn mit Versprechungen seiner Bestimmung als König bedrängt. Palance hatte schon immer der Herrscher von Callahorn sein wollen. Schon als Balinor die Stadt verlassen hatte, war ihm klargewesen, daß Palance sich eines Tages als König sah. Stenmin hatte ihn beraten und unterstützt, sein Gemüt gegen Palances Bruder vergiftet. Aber Palance war ein geistig und körperlich gesunder Mann gewesen, mit starkem Willen, unabhängig, nicht leicht zu zerbrechen. Nun hatte er sich völlig verändert. Höndel hatte Palance falsch gesehen, aber Balinor offenkundig auch. Keiner hatte so etwas vorausgesehen, und nun war es zu spät.

»Shirl - was ist mit Shirl?« sagte Balinor.

Wieder verschwand der Zorn aus den Augen seines Bruders, und Palance lächelte schwach.

»Sie ist so schön - so wunderschön.« Er seufzte und ließ den Dolch auf den Boden fallen, um mit Gesten seine Worte zu unterstreichen.

»Du hast sie mir weggenommen, Balinor, du hast versucht, sie mir vorzuenthalten. Aber jetzt ist sie in Sicherheit.

Sie wurde von einem Südländer gerettet, einem Prinzen, wie ich es bin. Nein, ich bin jetzt König von Tyrsis, und er ist nur ein Prinz. In einem ganz kleinen Reich; ich habe noch nie davon gehört.

Er und ich werden gute Freunde sein, Balinor, so, wie wir es einst gewesen sind. Aber Stenmin... sagt, ich darf keinem trauen. Ich mußte sogar Messaline und Acton einsperren. Sie kamen zu mir, als die Grenzlegion heimgeschickt wurde, und wollten mich überreden... nun, ich sollte meine Friedenspläne aufgeben. Sie begriffen nicht... warum...« Er verstummte plötzlich, als sein Blick auf den Dolch fiel. Er hob ihn schnell auf, schob ihn in den Gürtel und lächelte seinen Bruder schief an, genau wie ein kluges Kind, das sich einer Rüge hat entziehen können.