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Im Niltal ging das Leben weiter. Ein neuer Khedive, Abbas II. Hilmi, besaß gegenüber dem britischen Generalkonsul Lord Cromer und dem neuen Oberbefehlshaber der ägyptischen Armee, Lord Kitchener, keine politische Einflußmöglichkeit mehr. Der Tempel von Luxor, auf dem noch vor wenigen Jahren Häuser gestanden hatten, war von den gewaltigen Schuttmassen befreit und versetzte die Touristen in Entzücken. Aus London kehrte Flinders Petrie zurück und machte sich an die Ausgrabung des Totentempels von Ram-ses am Fuße von el-Kurna. Und das Kairoer Museum, seit der Nilflut baufällig, wurde von der Vorstadt Bulak in das Khedivenschloß bei Giseh verlegt. In dem holzgetäfelten Saal, in dem einst Haremsdamen Ismail Pascha verwöhnten, lagen nun die Mumien der berühmtesten Pharaonen des alten Ägypten.

Die Leiche Mariettes, zunächst auf dem evangelischen Friedhof in Kairo bestattet, wurde exhumiert und in einen Granit-Sarkophag vor dem Haupteingang des Museums verbracht. Der preußische Pascha Heinrich Brugsch wurde schlicht auf dem Charlottenburger Friedhof beigesetzt. Irgendwie trennten sie ja schon im Leben Welten.

XII. Spuren im Tal der Könige

Rote und grüne Raketen zischten zum Himmel und tauchten für Sekunden das nächtliche Tal in orientalischen Lichterzauber. Die schroffen Felswände glühten, um im nächsten Augenblick in fahlem Grün zu erstarren. Altertumsforscher aus aller Welt verabschiedeten das Jahrhundert im Tal der Könige.

Einheimische und Touristen, Fellachen mit ihren Eseln, verschleierte Mütter mit kleinen Kindern auf dem Arm, bellende Hunde und Maultiergespanne mit hochrädrigen Wagen, sie alle hetzten den staubigen Weg um den Hügel Dra abu el-Naga herum nach Südwesten zum Tal der Könige. Hunderte eifernder, lärmender, drängender Menschen steigerten sich in eine Psychose, trampelten Stolpernde nieder, jeder wollte der erste sein.

Ein Hirtenjunge hatte in atemlosem Lauf die Nachricht nach Luxor gebracht: »Loret hat einen Pharao gefunden!« Ein Gerücht wurde zur Wahrheit, von Goldschätzen war die Rede, unter der Erde ein Berg von Gold. Was für ein Kerl, dieser Victor Loret!

Die bewaffneten Wächter bildeten, als sie die schreiende Menge heranstürmen sahen, einen Ring um den Zugang. Dieser lag genau gegenüber jenem Seitental, in dem vor 80 Jahren Belzoni das Sethos-Grab entdeckt hatte. Beim Herannahen der erregten Menge feuerte einer der Wärter einen

Schuß in die Luft, und im nächsten Augenblick verebbte das hysterische Geschrei, Stille breitete sich aus, schweigende, gaffende Menschen reckten die Hälse: ein Pharao! Aus der Menge löste sich eine Gestalt. Die meisten kannten ihn: Es war Flinders Petrie. Er kletterte den steilen Anstieg hinan, die Wächter ließen ihn bereitwillig passieren. Schließlich stand er am Rand eines großen Gerölltrichters, auf dessen Sohle ein schwarzes Loch gähnte. Petrie rutschte in den Trichter hinab, kam auf einem verwitterten Treppenabsatz zum Stehen und tastete sich vorsichtig auf den steilen Stufen nach unten. Nach wenigen Schritten war das Tageslicht zu Ende, er blieb stehen, lauschte. Wie aus endloser Tiefe drang verwaschenes Stimmengewirr an sein Ohr. »Loret!« schrie der Engländer aus Leibeskräften, »Loret! Ich bin es, Petrie!« - Keine Antwort. Da tastete er sich weiter mit den Händen an den Wänden entlang. Er spürte Reliefs und Hieroglyphenzeichen, Furcht überkam ihn, er könnte in irgend etwas hineingreifen. Das Stimmengewirr wurde lauter. »Loret!« schrie er. - Nichts. Weiter. Auf einmal war die Wand weg, Petrie tastete ins Leere, spürte Schwindelgefühl, verlor die Orientierung. »Loret!« rief er in seiner Hilflosigkeit und lauschte.

Da näherten sich Schritte. »Loret!« wiederholte Petrie. Man hatte ihn gehört. Von irgendwoher tanzte ein Lichtschein, dahinter ein Schatten.

»Um Gottes willen, bleiben Sie stehen!« Es war Lorets Stimme. »Stehen bleiben!«

Erst jetzt, im diffusen Licht der Lampe, erkannte Petrie, daß er am Rand einer Fallgrube stand. Zehn, zwölf Meter mochte der Schacht tief sein. Loret hatte eine Leiter zur gegenüberliegenden Wand eingespreizt. Eine zweite Leiter lag im rechten Winkel darüber und führte zu einem knapp mannshohen Schlupfloch in der linken Wand des Schachtes. Der Franzose balancierte vorsichtig über die schwankende Leiterbrücke und streckte Petrie die Hand entgegen.

Durch einen engen Korridor gelangten sie in einen Saal mit vier Pfeilern. Loret hielt die Lampe in die Höhe, sagte aber kein Wort. Von der tiefblauen Decke glitzerten gelbe Sterne. An den Pfeilern stand der Pharao vor dem Totengott. Und dahinter lagen neben einem Sandstein-Sarkophag neun Mumien. Loret sagte noch immer kein Wort. War es der Entdeckerstolz oder die Ergriffenheit des Augenblicks, die ihm die Sprache raubte?

Petrie nahm Loret die Lampe aus der Hand und leuchtete über die fahlen Mumien zu seinen Füßen. Amulette und kunstvolle Hieroglyphen zierten die Hüllen, unter denen die Umrisse von Menschen zu erkennen waren. Petrie musterte jede einzelne Mumie, begann wieder von neuem, wiederholte den Vorgang noch einmal, dann ließ er den Lichtstrahl von einer zur anderen gleiten und sagte mit ergriffener Stimme: »Thutmosis. Amenophis. Merenptah. Siptah. Sethos.«

Jetzt nahm Loret dem Engländer die Lampe aus der Hand, beleuchtete den Sandstein-Sarkophag und sagte: »Und hier -der zweite Amenophis!« Er zeigte auf einen handbreiten Spalt an der Oberseite. Loret hatte den schweren Deckel mit Hilfe einer Brechstange verschoben, so daß man in das Innere blicken konnte. »Die Mumie ist unversehrt, mit allem Schmuck und allen Beigaben.« Flinders Petrie spürte, wie seine Hände zitterten. Er streckte Loret seine Rechte entgegen und schämte sich nicht seiner Ergriffenheit. »Ich gratuliere, Loret!« sagte er leise. »Ich beglückwünsche Sie zu einer der größten Entdeckungen des Altertums.« Und dabei dachte er an die Worte des alten Brugsch, der immer von einem zweiten Versteck gesprochen hatte.

Die Entdeckung des Mumienverstecks im Jahre 1898 erfolgte gerade zu einem Augenblick, als die Arbeit im Tal wie -der einmal aufgegeben werden sollte. Erman, der führende deutsche Ägyptologe, hatte in Berlin lautstark verkündet, die Periode der Entdeckungen sei zu Ende. Victor Loret, überzeugt von der Möglichkeit weiterer Funde in diesem Gebiet, grub monatelang erfolglos. Behörden und wissenschaftliche Gesellschaften verübelten es dem Franzosen, daß er sich mit derlei sinnlosen, aufwendigen Ausgrabungen beschäftigte. Seit dem Vorjahr erst hatte er den Posten des Altertümer-Direktors inne; er war der vierte innerhalb weniger Jahre. Doch schien er ziemlich ungeeignet für dieses Amt. Loret war kein Schreibtischmensch, und er machte sich durch seine Eigenwilligkeit sowohl die ägyptischen Beamten, als auch die europäischen Ausgräber zum Feind. Diese Entdeckung war daher Wasser auf seine Mühlen. Loret war gewiß nicht der bedeutendste Altertumsforscher jener Tage, der Organistensohn aus Paris zeigte bisweilen mehr Interesse für Musik und Botanik, aber diese Entdeckung machte ihn mit einem Schlag zum bekanntesten Forscher um die Jahrhundertwende. Loret ließ die neun Pharaonenmumien, die in dem Ameno-phis-Grab versteckt worden waren, nach Kairo schaffen. Amenophis selbst verblieb auf Wunsch seines Entdeckers in seinem Sarkophag, der meinte, man dürfe einen Pharao, der unberührt in seinem Sarg gefunden werde, nicht aus seiner letzten Ruhestätte herausreißen und in ein Museum bringen. Das sei ein Frevel.

Deshalb wurde vor dem Grabzugang, der nun das vielbestaunte Pilgerziel Tausender Touristen wurde, ein schweres Eisengitter angebracht. Bewaffnete Wächter bewachten das Tor Tag und Nacht. Loret ernannte den jungen Howard Carter, inzwischen 24 Jahre alt, ein gewissenhafter Ausgräber und gefragter Zeichner, zum verantwortlichen Inspektor für die oberägyptischen Altertümer. Man liebte ihn nicht allzusehr, diesen Howard Carter, der eine bewaffnete Truppe von Wächtern kommandierte und auch selbst nie ohne Gewehr angetroffen wurde. Kein Wun-der, die einheimischen Fellachen standen nun unter strenger Kontrolle, und die meist viel älteren Forscher fühlten sich von dem die Aufsicht führenden jungen Engländer provoziert. Denn Carter tauchte zu jeder Tages- und Nachtzeit und an jedem Ort völlig unerwartet auf, machte ein paar Notizen und verschwand wieder. Er hauste in einer primitiven Hütte zwischen Dra abu el-Naga und el-Tarif, und ihm entging nichts.