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Borchardt überflog die Schriftzeichen, stockte, las noch einmal, diesmal langsamer, sah Sethe an und fragte unvermittelt: »Wie oft fielen bei den alten Ägyptern astronomisches und bürgerliches Neujahr zusammen?« Sethe, dem der Sinn um diese Zeit viel mehr nach einer Bulette und einer Weißen mit Schuß stand, antwortete gereizt: »Du könntest mich auch was Leichteres fragen . . .« Borchardt ließ nicht locker: »Für die Ägypter begann das neue Jahr mit der Nilflut. Sie setzte ziemlich regelmäßig alle 365 Tage ein und solange dauerte auch ein Jahr. Doch dann kamen die Astronomen und rechneten ...« ». . . und sie bemerkten, daß das astronomische Sonnenjahr sich alle vier Jahre um einen Tag verschob, weil alle vier Jahre der Sothis-Stern, unser Sirius, einen Tag später aufging.«

»So ist es«, pflichtete Borchardt bei und kritzelte ein paar Zahlen auf einen Zettel. »Das bedeutet aber auch, daß alle 1460 Jahre Sothis-Jahr und Nil-Jahr denselben Neujahrstag hatten.«

»Klar, vier mal 365 ist 1460. Na und?« Borchardt hielt Sethe den Papyrus-Fetzen unter die Nase: »Hier. Hier steht, daß an diesem Tag der Sothis-Stern aufging und das Niljahr begann. Damit haben wir zum erstenmal eine absolute Jahreszahl aus der ägyptischen Geschichte.«

Tags darauf zog Borchardt einen Astronomen zu Rat. Mit Hilfe der unscheinbaren Kalendernotiz konnte eine absolute Jahreszahl berechnet werden, ein Fixpunkt, von dem man andere Jahreszahlen errechnen konnte. Jetzt stellte sich heraus, daß die Altertumsforscher allesamt die Geschichte Ägyptens um mehr als tausend Jahre zu hoch angesetzt hatten, als sie in Wirklichkeit war.

Rote und grüne Raketen zischten zum Himmel und tauchten für Sekunden das nächtliche Tal in orientalischen Lichterzauber. Die schroffen Felswände glühten, um im nächsten Augenblick in fahlem Grün zu erstarren. Altertumsforscher aus aller Welt verabschiedeten das Jahrhundert im Tal der Könige. Inspektor Howard Carter hatte elektrischen Strom ins Tal legen lassen, eine unschätzbare Erleichterung für die Arbeit unter der Erde, doch in dieser Nacht diente die Elektrizität der bunten Illumination des Sethos-Grabes, in dessen Pfeilersaal weiß gedeckte Tische aufgestellt waren. Da fuhr der Sonnengott durch die Nacht der Totenwelt und König Sethos stand totenbleich vor Osiris und Hathor. Die rotgrünen Reliefs zeigten Horus und die vier damals bekannten Menschenrassen: Ägypter, Asiaten, Neger und Libyer. Das Publikum zum Jahreswechsel 1899 war weit illustrer, kam aus Ländern und Kontinenten, von denen die Ägypter zu Sethos' Zeiten keine Ahnung hatten: aus Amerika Charles Wilbour, dessen Rauschebart ihm bei den Einheimischen inzwischen den Namen Abu Dign, Vater des Bartes, eingebracht hatte, und der wohlhabende Kupfermagnat Theodore M. Davis, der Ägyptologie als Steckenpferd pflegte, aus Frankreich der alte und neue Altertümer-Direktor Gaston Maspero, aus der Schweiz Edouard Naville, aus England Flinders Petrie, Henry Sayce und Inspektor Howard Carter, und aus Deutschland Emil Brugsch, die rechte Hand Masperos. Er und Howard Carter waren als einzige ohne Damen erschienen. Der schüchterne Carter war Junggeselle aus Überzeugung, und Brugsch beklagte bei Tisch sein trauriges Schicksal, das ihn innerhalb eines halben Jahres um Frau und Vermögen gebracht hatte.

»Geschieht Ihnen ganz recht«, meinte Maspero, »ein Mann entführt nicht ungestraft eine Haremsdame des Khe-diven; aber sie dann auch noch heiraten zu wollen, das grenzt beinahe an Dummheit, Monsieur!« »Aber ihre schwarzen Augen!« lamentierte der kleine Brugsch. »Haben Sie jemals ihre schwarzen, unergründlichen Augen gesehen?«

»Die schönsten Augen der Welt sind es nicht wert, daß man sein Vermögen an die Frau, die sie besitzt, verschleudert«, sagte Maspero, und den übrigen Anwesenden erklärte der Franzose, die Haremsdame des Paschas habe einer Heirat nur unter der Bedingung zugestimmt, daß Brugsch ihr sein Haus in Kairo überschrieb, und als dies alles geregelt gewesen sei, habe sie ihn vor die Türe gesetzt. Genauso habe es sich abgespielt, stimmte Brugsch zu, zwanzig Jahre habe er gespart, um sich dieses Haus kaufen zu können, jetzt stehe er wieder vor dem Nichts, es sei ein Jammer, nur gut, daß Heinrich das alles nicht mehr erleben mußte.

Petrie drückte die Hand seiner jungen Frau Hilda, als wollte er sagen: Von dir hätte ich das nicht zu erwarten. Aber schließlich waren die beiden erst kurz verheiratet. Abu Dign erkundigte sich bei Petrie nach den Fortschritten seiner Grabungen in Abydos und wo er im kommenden Jahr zu arbeiten gedenke. Der Engländer antwortete, keine zehn Pferde brächten ihn aus Abydos fort. Er wollte endlich einmal eine Grabung zu Ende bringen und nicht von irgendwelchen Schreibtischmenschen an irgendwelche Einsatzorte geschickt werden.

Davis, der mit Sayce auf dessen Dahabija »Ischtar« nach Luxor gekommen war, unterhielt sich angeregt mit Howard Carter. Einmal im Tal der Könige zu graben, meinte er, das sei der Traum seines Lebens, und diesen Traum würde er sich viel Geld kosten lassen.

»Das wäre hinausgeworfenes Geld!« unterbrach ihn Mas-pero. »Im Tal gibt es keinen Stein, der noch nicht dreimal umgedreht worden ist. Da weiß ich fruchtbarere Flecken Erde.«

»Aber Mister Carter hat. . .«, wandte Davis ein. »Mister Carter ist ein junger Mann von hoher Begabung«, sagte Maspero etwas überheblich, »aber ich glaube, es fehlt ihm noch an Erfahrung. Das Tal ist erforscht bis in die letzte Felsspalte, glauben Sie mir!«

Carter schien verärgert. »Verzeihen Sie, Sir, das hat schon Belzoni behauptet und Erman, und was ist seitdem alles geschehen? Vergleichen wir die Pharaonen-Listen von Abydos und Karnak, dann fehlt noch mindestens ein halbes Dutzend Könige.«

»Gut, gut, Mister Carter«, lächelte Maspero, »haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte?« Das war unverschämt, denn Maspero wußte natürlich ganz genau, daß Carter keinen einzigen Hinweis auf ein weiteres Grabversteck hatte. Carter wurde zornig und revanchierte sich mit der Behauptung, auch Loret habe nicht eine einzige Spur gehabt und dennoch zehn Pharaonen entdeckt.

Das traf. Maspero wurde nur ungerne an seinen Schüler Lo-ret erinnert, der als Altertümerdirektor unfähig war, aber zum erfolgreichen Ausgräber wurde. Deshalb paßte es ihm ganz und gar nicht, als Howard Carter den Vorschlag machte, er selbst wolle zusammen mit Theodore Davis im Tal neue Suchgrabungen ansetzen. Inzwischen lauschten auch alle übrigen Gäste der Diskussion mit Aufmerksamkeit. Vor allem Sayce und Wilbour bedrängten den Franzosen, die Konzession zu erteilen, schließlich bedeutete auch ein Mißerfolg des Unternehmens keinen finanziellen Verlust, da Davis alle Kosten aus eigener Tasche bestreite. Maspero sah sich in die Enge getrieben. Genaugenommen gab es keinen einzigen Grund, diese Grabungen zu verbieten.

»Effendi, Effendi!« Der Fellache, der in der Morgendämmerung gegen Carters Türe schlug, war aufgeregt. Schlaftrunken schob Carter den Riegel zurück und erkannte Yussuf, einen seiner Grabwächter. »Ein Überfall, ein Überfall!« schrie Yussuf. »Kommen Sie schnell!« Howard Carter fuhr in die Kleider und rannte mit dem Grabwächter den Weg hinauf zum Tal. Unterwegs berichtete Yussuf, was vorgefallen war. Bewaffnete Gangster hätten sie mitten in der Nacht überwältigt, gefesselt und das Grab Amenophis' II. ausgeraubt, es sei eine Schande. Carter erschrak, als er zusammen mit Yussuf das aufgebrochene Grab betrat. Die schwere Deckplatte des Sarko-phages war heruntergewuchtet, die Mumie des Königs herausgerissen. Zerfetzte Bandagen vermittelten den Eindruck, daß der Leichnam genau an jenen Körperstellen durchsucht wurde, an denen die alten Ägypter kostbare Amulette anzubringen pflegten. Ob die Mumie Amenophis' II. solche Amulette enthielt, wußte Carter nicht; denn die Archäologen hatten den König nach seiner Entdeckung unberührt im Sarkophag belassen.

»Wie viele Banditen waren es?« erkundigte sich Carter. »Ich weiß nicht«, beteuerte Yussuf, »vielleicht drei oder vier, es ging alles so schnell!« »Und wo ist dein Freund, der zweite Wächter?« »Zu Hause, er wurde niedergeschlagen.« »Komm!« Carter packte Yussuf am Ärmel und zog ihn mit sich fort. »Hier gibt es nichts mehr zu bewachen.« »Wohin gehen wir?« fragte Yussuf auf dem steilen Weg nach Schech abd el-Kurna. Carter antwortete, er wolle den anderen Wächter fragen, was er gesehen habe. »Er hat noch weniger gesehen als ich«, schwor Yussuf, »du brauchst ihn nicht zu befragen, Effendi.« Der zweite Mann kam ihnen im Morgengrauen entgegen. »O welch ein Unglück für das ganze Land. Man hat den toten König beraubt, welch ein Unglück!« »Bist du verletzt?« erkundigte sich Carter. »Allah sei Dank, nein. Ich konnte fliehen.« »Sie haben dich also gar nicht niedergeschlagen?« Yussuf beteuerte, gesehen zu haben, wie man seinen Kollegen niederschlug, erst dann sei er geflohen. »Ich denke, die Banditen haben Euch gefesselt?« »Nein«, antwortete Yussuf, »wir konnten fliehen.« Als er merkte, daß die beiden sich in Widersprüche verwik-kelten, schickte Carter sie nach Hause und ging zu dem aufgebrochenen Grabeingang zurück. Im schrägen Licht der Morgensonne erkannte er deutliche Fußspuren, allerdings gaben sie nicht den geringsten Hinweis auf ein Handgemenge. Es schien vielmehr, als habe ein einziger Räuber in aller Ruhe das Schloß aufgebrochen und das Gangsterstück ausgeführt. Wo waren die Wächter in dieser Nacht? In Luxor lebte ein uralter Spurensucher, der seine Kunst den Jägern verkaufte. Ihn ließ Carter kommen, Fußabdrücke zeichnen und vermessen und schließlich verfolgen. Vor einem weißen Haus in el-Kurna blieb der Spurensucher stehen, es war das Haus der Abd er-Rassuls.