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Kim Stanley Robinson

Das unterirdische Königreich

1

Es ist erstaunlich, wie kurz die Unschuld der Jugend nur währt.

In meinem Fall währte sie eigentlich fast vierzig Jahre, doch ich bemerkte sie erst, nachdem sie verschwunden war, und so hatte ich natürlich nicht das Gefühl, als hätte sie lange gewährt. Höchstens ein paar Sekunden. Und danach war ich erfahren. Ich wußte es. Ich ging über die Straßen Katmandus, auf denen sich die Menschen drängten, was mir immer große Freude bereitete, und sah nun nur noch Verwahrlosung, Armut und falsche Stadtplanung.

Und Sie wissen, wessen Schuld das war.

Und so lag ich eines Abends in meinem Zimmer im Hotel Star mit der Tribbie auf dem Bett und fragte mich, ob eine Zeitung wirklich die Wahrheit über die Welt schreiben konnte, und wußte nun, daß das wohl doch der Fall war. Und jemand klopfte an meine Tür. Ich öffnete sie, und da stand Freds Fredericks, der aussah, als sei er gerade aus dem Himalaja zurückgekehrt.

Ich schlug schnell die Tür zu und schloß sie ab. »Verschwinde hier, Freds!« sagte ich laut. »Ich will nie wieder dein Gesicht sehen!«

Gedämpfte Proteste von draußen. Ich ignorierte sie, kehrte auf mein Bett zurück, griff mir die Zeitung und steckte die Nase hinein. »Verschwinde!« rief ich zur Tür. Bang bang bang. »Verschwinde, verdammt noch mal!«

Meine Tür teilt sich die Vorderwand des Zimmers mit einem Fenster, und das Fenster bestand aus drei Scheiben — eine große, flankiert von zwei schmalen, die auf Drehzapfen montiert sind. Diese schmalen Fenster kann man wie kleine Drehtüren öffnen, um eine frische Brise hinein- oder Rauch hinauszulassen. Als ich nun zu lesen versuchte, sah ich, wie Freds’ Hand die schmale Scheibe neben der Tür drehte, dann hineingriff und nach dem Türknopf tastete. Mit einer Drehung hatte er die Tür geöffnet.

Soviel zu den Sicherheitsvorkehrungen im Hotel Star.

Es war sowieso hoffnungslos; zweifellos hatte Freds bereits ein Zimmer gemietet, wahrscheinlich das nebenan, in dem er normalerweise wohnte. Ich würde ihm nicht ausweichen können. »Was willst du?« sagte ich und warf die Zeitung zu Boden.

»Nichts, George. Weißt du, ich komme gerade aus dem heiligen Tal zurück und dachte, ich schaue mal vorbei und sehe, wie es dir geht.«

»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Ich wiege fast schon wieder soviel wie in der achten Klasse.«

»Das ist gut, George, echt gut. Du siehst auch gut aus. Man kann die Narben kaum noch sehen.«

»Wunderbar.«

Freds setzte sich auf den einzigen Stuhl des Zimmers. »Hör zu, George, ich muß dich um einen kleinen Gefallen bitten — Ahhh! — He! — Nein! — He! Einen wirklich kleinen, George! Einen wirklich kleinen!«

Mittlerweile waren wir auf dem Gang, und ich hatte ihn an der Kehle gepackt. Ich wußte nicht mehr genau, wie wir dorthin gekommen waren. Diese Eigenschaft, die ich in letzter Zeit entwickelt hatte, erfüllte mich mit Besorgnis. Erinnerungslücken. Phasen der Amnesie oder übertriebene Gefühlsreaktionen. Wahnsinn — ja, darüber sprechen wir hier.

Ich lockerte meinen Griff um seine Kehle und sagte vorsichtig: »Muß ich irgend etwas tun?«

»Nein! Gar nichts!«

»Gut.« Ich kehrte in mein Zimmer zurück und ließ mich schwer auf das Bett fallen. Seit meiner letzten Begegnung mit Freds ermüde ich immer so schnell.

In Wahrheit hatte ich genug von Freds Fredericks. Er war die Schlange in meinem Garten; er hatte den verfaulten Apfel des Wissens genommen und ihn mir in die Kehle gestopft, und ich war daran erstickt. Und nun machte mir nichts mehr in Nepal Spaß.

»Was ist es diesmal?« sagte ich und verspürte unwillkürlich das Gefühl, ich würde gleich hören, wie ein Urteil über mich gefällt wurde.

»Nichts, George, wirklich. Nichts. Entspanne dich. Es ist nur, daß meine Freunde Gaubahal und Daubahal unten in Chitwan ein neues Dschungelcamp eröffnet haben und Kunden brauchen, um die Sache ans Laufen zu kriegen. Du weißt schon, ein Ort wie Tiger View, nur billiger. Wenn wir dort eine Woche Urlaub machen, geben sie uns achtzig Prozent Rabatt.«

»Nein«, sagte ich. »Ich hasse den Dschungel.«

»Ich auch«, sagte Freds, »aber Gaub und Daub haben da ein wirklich schönes Plätzchen direkt an der Grenze zum Chitwan-Nationalpark, ein paar neue Bungalows und Hochsitze und so weiter. Wir müssen nur essen und trinken und herumhängen und Vögel und Tiere und so weiter beobachten.«

Allmählich erfüllte mich Grauen. »Auf keinen Fall.« Natürlich wußte ich, daß er etwas ausließ. Ich war mir nur nicht sicher, was oder warum, aber ich wußte es. Als Freds mich die letzten Male um einen Gefallen gebeten hatte, war es darauf hinausgelaufen, daß ich danach meinen ganzen Körper durch einen Ärmel meines Hemdes schieben konnte. Ich wußte, daß ich mit dem, was er diesmal vorhatte, nichts zu tun haben wollte.

»Komm schon, George. Du siehst aus, als könntest du die Erholung echt gebrauchen. Ich mache es auf jeden Fall, und es wäre doch toll, wenn du mitkommst. Wir können auf Elefanten reiten und so weiter.«

»Auf keinen Fall. Keine Chance.«

2

Also machte ich Urlaub in Chitwan. Wir wurden in aller Herrgottsfrühe von einem Landrover abgeholt, der schon mit Deutschen vollgestopft war, die darauf beharrten, keine Deutschen, sondern Bayern zu sein, und die Fahrer brachten uns in südwestliche Richtung ins Terai hinab, das Tiefland im südlichen Nepal, das zur Ganges-Ebene gehört. Früher hatte ich Fahrten in diese Richtung immer genossen, nach Pokhara und dem Wilden Westen Nepals; doch nun sah ich an der Straße nur verfallene Dörfer mit hungrigen Gesichtern, die in unsere Fenster starrten.

Wir erreichten das Ende der Straße, tief in den Boonies, und wurden von unserem Campverwalter Daubahal begrüßt, der besorgt aussah. Anscheinend hatte der Jeep des Camps seinen Geist aufgegeben. Das Camp befand sich auf der anderen Seite eines breiten, aber flachen Flusses, und ohne den Jeep konnten wir es nicht erreichen, und wir wußten auch nicht, wo wir die Nacht verbringen sollten. Es kam nicht in Frage, den Fluß mit dem Landrover zu durchqueren; er wäre abgesoffen. Daubahal, ein kleiner, eifriger Hindu, führte über ein Walkie-talkie ein eindringliches Gespräch, und nach vielleicht einer Stunde erschien am anderen Ufer ein Zug Elefanten, deren Führer hinter ihren Köpfen saßen. Sie durchwateten den Fluß langsam; an manchen Stellen reichte den Tieren das Wasser bis zu den Schultern. »Klasse«, sagte Freds. »Wir setzen auf Elefanten über.«

So war es dann auch. Die Elefanten knieten nieder, und wir stiegen die elastische Haut ihrer gebogenen Beine auf riesige Holzsättel hinauf, die man ihnen auf den Rücken geschnallt hatte. Diese Sättel waren eigentlich viereckige Plattformen mit Holzgeländern, die an den vier Ecken von hölzernen Pfosten gehalten wurden. Wir setzten uns, schlangen die Beine um die Pfosten und ließen die Arme über die Geländer baumeln, jeweils vier Personen pro Elefant, die Führer nicht eingerechnet, die den Tieren ein paar Schläge versetzten, nachdem wir aufgestiegen waren, damit sie sich erhoben, und dann ihre Rüssel hinaufkletterten und ihre Positionen hinter den Köpfen einnahmen. Und wir schwankten in den Fluß.

Ich saß zum ersten Mal auf dem Rücken eines Elefanten und war beeindruckt, wie groß sie waren und wie unregelmäßig wir uns bewegten. Die Plattform hatte kein Gelenk, und der Trott unseres Elefanten warf sie unberechenbar hin und her. Ich erfuhr, daß Elefanten beim Gehen ein Bein vorsetzen und es so steif wie einen Pfosten halten; wenn das Bein dann irgendwann hinter der Vertikalen ist, setzen sie es auf, und es gibt abrupt am Knie nach. Die Ecken der Plattform, die auf den vier höchsten Punkten des Geschöpfes sitzen, erheben sich langsam und fallen dann in einem Rhythmus, den ich nicht entschlüsseln konnte, mit dem aufsetzenden Bein ab. Es war eine zufällige Bewegung, als säßen wir auf einem kleinen Floß, und Wellen rollten aus jeder Richtung unter uns hinweg. Wenn man für die Seekrankheit anfällig war, konnte es einem Probleme bereiten, und nach einer Stunde oder so hatte jeder Passagier für den Rest des Tages Rückenschmerzen.