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Der Wind trug den zornigen Schrei eines Drachen heran, und Skar schrak abrupt aus seinen Gedanken. Einer der grauen Schatten bewegte sich auf den Ausgang der Schlucht zu. Skar wußte, daß er ihn nicht erreichen würde. Das Tal lief in einer geröllübersäten Böschung aus, die selbst für einen der großen Drachen zu ersteigen war, aber keines der Tiere tat es. Skar hatte mehrmals beobachtet, wie einer der Drachen aus seinem Gefängnis auszubrechen versuchte, und jeder Anlauf hatte gleich geendet. Auch dieses Tier stürmte wütend los, aber schon nach wenigen Dutzend Schritten erlahmten seine Bewegungen wieder, wurden langsamer, verloren ihre zornige Kraft und wurden schließlich zu einem fast unschlüssig wirkenden Schlendern. Ehe der Drache noch die Hälfte der Böschung erstiegen hatte, blieb er ganz stehen. Der Kopf auf dem langen schlangenartigen Hals bewegte sich verwirrt hin und her, und schließlich machte die Riesenechse kehrt und trottete zu ihren Artgenossen zurück. Anfangs hatte Skar geglaubt, daß es dort unten so etwas wie eine unsichtbare Mauer geben müsse, aber je länger er das Verhalten der Tiere beobachtete, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, daß es etwas anderes war. Vor dem Ausgang der Felsenschlucht war etwas, aber es war kein faßbarer Widerstand. Die Tiere benahmen sich, als lösche etwas ihren Willen aus, das Tal überhaupt zu verlassen.

Skar hatte dieser Beobachtung anfangs kaum Bedeutung zugemessen. Sie war nichts gegen all die anderen Wunder, die er in den letzten beiden Tagen erlebt hatte. Aber je länger er die Drachen beobachtete, desto wichtiger erschienen sie ihm. Es mußte einen Grund dafür gegeben haben, daß sie die Drachen zusammengetrieben und in dieses Tal gesperrt hatten. Sie hatten bewiesen, daß sie in der Lage waren, das geistige Band zwischen Drachen und Errish zu unterbrechen und selbst diese gigantischen Tiere unter ihren Willen zu zwingen. Wenn sie es nicht taten, sondern den Großteil der Drachen einsperrten, dann bedeutete das, daß auch ihrer Macht Grenzen gesetzt waren. Und dieser Gedanke beruhigte Skar.

Er glaubte nicht, daß ihm dies in irgendeiner Form helfen würde. Er hatte verloren, endgültig und total. Selbst die Stimme seines Dunklen Bruders schwieg. Der Daij-Djan, so schien es, war fort, ebenso ausgesperrt wie das Flüstern in seinen Träumen, das ihn fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Der Turm mochte die Quelle des bösen Flüsterns sein, aber er schien seine Bewohner auch gleichzeitig davor zu schützen.

Er wollte sich schon umdrehen und auf sein Zimmer zurückgehen, als ihm eine Bewegung über dem nördlichen Rand des Tales auffiel; ein rasches Flattern hoch oben in der Luft, das nach Augenblicken zu einem Schatten wurde, der sich nach wenigen weiteren Sekunden wieder teilte, bis Skar einen Trupp von insgesamt sechs Daktylen erkennen konnte, die sich in direkter Linie und sehr schnellem Flug auf den Turm zubewegten. Anschi und ihre Mädchen, die von ihrer täglichen Patrouille zurückkehrten. Skar hatte sie gestern beobachtet, und den Tag zuvor. Sie flogen immer zur gleichen Zeit fort und kehrten erst spät am Nachmittag zurück. Er fragte sich, was sie suchten, jetzt, wo Titch und er in der Gewalt der Zauberpriester waren.

Die Daktylen kamen rasch näher, und Skar konnte jetzt die schlanken, in bestickte schwarze Mäntel gehüllten Gestalten auf ihren Rücken erkennen. Reglos blieb er auf dem kleinen Balkon stehen, bis die riesigen Flugechsen in kleiner werdenden Spiralen in den Hof der Festung hinabtauchten und damit aus seinem Blickwinkel verschwanden, dann drehte er sich um und ging in sein Zimmer zurück. Er merkte erst jetzt, wie kalt es draußen gewesen war, und auf seinen nackten Oberarmen erschien nachträglich eine Gänsehaut, obgleich hier drinnen eine behagliche Temperatur herrschte. Ein weiteres Wunder dieses Alptraumturmes: ganz gleich, wie kalt es draußen war, es war immer warm hier drinnen, obwohl nirgendwo ein Feuer brannte. Es war auch immer hell, obwohl es keine Fackeln oder sonstige Lichtquellen gab. Die Luft selbst schien in einem milden, gelben Licht zu strahlen.

Etwas geschah.

Skar konnte nicht sagen, was. Er sah nichts, hörte nichts, fühlte nichts... und doch: für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, eine Erschütterung zu spüren, etwas wie ein Wanken des Bodens unter seinen Füßen, ohne daß er sich auch nur um den Bruchteil eines Millimeters bewegte. Es war wie... ein Beben, nicht der Dinge, sondern der Realität. Als wären zwei Welten aufeinandergeprallt, hätten sich für einen unendlich kurzen Moment berührt und glitten nun wieder auseinander. Skar taumelte. Für die Dauer eines Atemzuges wurde ihm schwindlig, und plötzlich war es ihm, als würde ein unsichtbarer Schleier von seinen Gedanken gehoben, eine erstickende Decke, die die ganze Zeit über dagewesen war, ohne daß er sie auch nur bemerkt hatte.

Verwirrt hob er die Hände ans Gesicht, fuhr sich über die Augen und sah sich um. Nichts hatte sich verändert. Der Raum war so kalt und unwohnlich wie immer, jeder Gegenstand an seinem Platz, und doch...

Es war, als sähe er ihn das erste Mal.

Das erste Mal so, wie er wirklich war.

Draußen auf dem Gang polterte etwas, und aus dem Hof klang das schrille, unwillige Kreischen einer Daktyle herauf. Skar hörte eine Stimme, ohne die Worte zu verstehen, die sie sagte. Er wollte sich zur Tür wenden, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne, als die Stimme ein zweites Mal und näher erscholl.

Und plötzlich wußte er.

Von einer Sekunde auf die andere sah er alles ganz deutlich vor sich, so klar und logisch, daß er eine weitere Sekunde damit verschwendete, sich verblüfft zu fragen, wieso er nicht schon vor Wochen darauf gekommen war. Plötzlich wußte er, wer Ennart wirklich war, was er wirklich wollte und warum. Alles war ganz klar und logisch, alle Widersprüche mit einem Male erklärt, alle offenen Fragen beantwortet; einschließlich der, wieso es so lange gedauert hatte, bis er endlich begriff.

Etwas hatte ihn am Denken gehindert. Die gleiche Macht, die die Seelen jeder denkenden Kreatur Enwors vergiftete, hatte auch sein Bewußtsein getrübt. Nicht so sehr, daß es ihm aufgefallen wäre, sondern behutsam, wie ein schleichendes, heimtückisches Gift, das seine Gedanken immer nur dann unterbrach, wenn sie sich in eine ganz bestimmte Richtung bewegten...

Del! dachte Skar entsetzt. Großer Gott! Del und das gesamte Heer würden...

Der Gedanke entglitt ihm. Etwas wie ein unsichtbarer, stählerner Besen schien durch seinen Schädel zu fahren und sein Bewußtsein umzustülpen. Plötzlich war wieder nichts als Chaos in seinen Gedanken, alle Teile des Mosaiks noch immer da, aber wieder in heilloser Unordnung. Das Bild, das er für den Bruchteil einer Sekunde in aller Deutlichkeit gesehen hatte, zerbarst wie eine Glasscheibe in Millionen Teile, und dann glaubte er zum zweiten Mal etwas wie ein Erdbeben der Schöpfung selbst zu fühlen. Der Schleier war wieder da. Skar konnte fühlen, wie sich ein ganz bestimmter Aspekt seines Bewußtseins trübte, ohne daß er in der Lage war, etwas dagegen zu tun. Was immer geschehen war, sie hatten es rückgängig gemacht, kaum daß sie ihren Fehler bemerkt hatten.

Verwirrt sah er sich um. Es war wieder still. Aber die Betonung lag auf dem Wort wieder. Er hatte den Schrei der Daktyle nicht vergessen. Auch das magische Schweigen des Turmes war fort gewesen, so wie das unsichtbare Spinnennetz in seinem Kopf, das ihn am Denken hinderte. Für Augenblicke, da war er sicher, hatte die gesamte ungeheuerliche Maschinerie dieses Turmes versagt. Und diese Erkenntnis war ungeheuer wichtig. Er hielt sie fest wie einen Schatz. Mit einem Ruck drehte er sich um und eilte zur Tür.

Im nächsten Moment taumelte er zwei Schritte zurück und sank mit einem Schmerzlaut auf die Knie, denn die Tür wurde so hart aufgestoßen, daß sie ihm vermutlich alle Knochen im Leib zerschmettert hätte, hätte sie ihn voll getroffen und nicht nur gestreift. Unter der Öffnung erschien eine taumelnde Gestalt: einer der beiden Männer, die draußen bereitgestanden hatten, um seine Wünsche zu erfüllen. Sein Gesicht war eine Grimasse der Qual, und sein Mund hatte sich zu einem Schrei geöffnet, ohne daß auch nur der geringste Laut über seine Lippen kam. Sein Wams war rot. Etwas hatte seine Kehle zerfetzt.